Verschickungskinder

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Verschickungskinder ist eine umgangssprachliche Bezeichnung für Kinder und Jugendliche in Deutschland, die zur Durchführung von Maßnahmen der Gesundheitshilfe außerhalb des Elternhauses in Heimen untergebracht waren (sog. Kinderkuren).

Art und Umfang[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Konservativ geschätzt waren 3 Millionen Menschen betroffen.[1] Andere Schätzungen gehen von 8 bis 12 Millionen Kindern aus. Die Verschickungen erfolgten von der Nachkriegszeit bis in die 1990er Jahre für zwei- bis sechswöchige Aufenthalte in Kinderheimen und -heilstätten. Kleinkinder wurden gemeinsam oder auch alleine verschickt,[2] darunter auch Kinder ab dem zweiten Lebensjahr.[3]

Im Jahr 1963 waren in der BRD 839 Kinderheilstätten und Kinderheime mit 56.608 Betten ausgewiesen. An- und Abreise erfolgte meist per Bahn in Kleingruppen (in 1977 transportierte die Bahn 518.000 Kurkinder),[4] aber auch per Bus.

Nach §§ 5 Abs. 1, 17 Satz 2 des Gesetzes für Jugendwohlfahrt wirkten dabei Gesundheits- und Jugendämter zusammen. Verschickt wurden Kinder und Jugendliche, deren Gesamtkonstitution durch exogene Schäden, Unterernährung, Mangelernährung oder Mangel an Licht, Luft und Bewegung bereits gefährdet war, chronisch kranke Kinder und Jugendliche, beispielsweise bei Erkrankungen an aktiver Tuberkulose oder Kinderlähmung, aber auch Kinder ohne erkennbare Gründe.[5][6]

Systematik und Infrastruktur basierten weitgehend noch auf der Kinderlandverschickung (KLV), die schon während der Weimarer Republik und unter der Herrschaft der Nationalsozialisten bestanden hatte. Während des Zweiten Weltkriegs hatte sie dann der Evakuierung von Stadtkindern vor alliierten Luftangriffen gedient (sogenannte Erweiterte KLV) und bezweckte nicht mehr die Erholung der Kinder.[7][8]

Erlebnisse[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In vielen Verschickungsheimen herrschte über lange Zeit ein strenger, vereinzelt noch von der NS-Ideologie geprägter Umgang mit den Kindern. Er war unter anderem von Johanna Haarer in ihrem Buch Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind (1934 bis 1987 verkauft) propagiert worden. Dazu gehörten Erprügeln von Gehorsam, strenge Sauberkeitsforderungen, körperlicher Zwang und das Diktat der Uhr.[9] Psychische und körperliche Gewalt wurde von den Kindern erlitten.[10] Zur Verschleierung der Umstände mussten viele Kinder vorgegebene Texte von einer Tafel auf Postkarten abschreiben, die dann an die Eltern nach Hause geschickt wurden.[7][11]

Eine Auseinandersetzung mit traumatischen Erlebnissen in den Kurheimen fand lange Zeit nur in Einzelfallschilderungen statt,[12] im Kinderbuch Schwarze Häuser von Sabine Ludwig[13] oder in Internetforen von Betroffenen.

Auch Todesfälle in bislang unbestimmter Zahl ereigneten sich. Die Todesursachen bisher belegter Fälle reichen vom Ersticken an Nahrungsresten und Erbrochenem, gewaltsam dem Kinde eingezwungen, weil es „nicht aufessen wollte“, bis hin zu Opfern heimlicher Medikamententests.[14]

Viele frühere Heime sind heute in Mutter-Kind-Kurkliniken umgewandelt.[3]

Aufarbeitung von Gewalterfahrungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

2017 legte eine Radioreportage negative Zustände in vielen Kinderkurheimen der 1950er bis 1970er Jahre offen.[7] Betroffene berichteten darin von Zwangsernährung, Gewalt, Isolationsstrafen und auch sexuellem Missbrauch in Einrichtungen der Diakonie, des Bundesbahnsozialwerks, privater Träger oder der Franziskanerinnen Thuine.[7] Der Beitrag verweist auch auf die zahlreichen Berichte im Internet, in denen Betroffene die Verschickungsheime als „brutale Zuchtanstalten“ beschreiben, ordnet sie als NS-Erbe ein und beschreibt die Ausbeutung der Kurkinder als einen mutmaßlich verbreiteten Geschäftszweig. Bei der Suche nach Daten gaben Verantwortliche 2017 an, keine Informationen zu den Heimen mehr zu besitzen. Die Thuiner Franziskanerinnen bewerteten die Vorwürfe der Betroffenen als „ein Konglomerat von unterschiedlichen Empfindungen, Gefühlen, Beobachtungen (…), die oft undifferenziert so zusammen gebracht werden, zu einem Vorwurf und damit tut man den Kurheimen insgesamt unrecht.“[15]

Die „Initiative Verschickungskinder“ unterstützt seit 2019 die Vernetzung und Gründung von regionalen Gruppen Betroffener. Vorsitzende des von der Initiative gegründeten Vereins „Aufarbeitung und Erforschung von Kinderverschickung e. V.“ ist Anja Röhl,[16] die bereits 2009 ihre eigenen Erinnerungen in der Presse veröffentlicht hatte.[17]

Im November 2019 fand erstmals ein von mehr als 70 Betroffenen organisierter Kongress mit dem Titel „Das Elend der Verschickungskinder“ statt.[18][19][20]

Im Dezember 2019 legte der Südwestrundfunk (SWR) eine empirische Studie vor, in der rund 1000 Erfahrungsberichte von 683 Frauen und 317 Männern ausgewertet wurden und in der rund 94 % der ehemaligen Kurkinder ihr Kurerlebnis als von Demütigung und Gewalt geprägt bewertet haben.[21][22][23]

Im Mai 2020 forderten die Jugend- und Familienminister der Länder den Bund auf, ein Forschungsprojekt zur Aufarbeitung der Schicksale der Verschickungskinder zu initiieren, um die Anzahl der Betroffenen und die institutionellen, strukturellen, individuellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen umfassend aufzuklären.[24][25] Einzelne Bundesländer wollen sich um eine Unterstützung der Geschädigten bemühen, beispielsweise durch niederschwellige therapeutische Hilfsangebote.[26][27] Im Januar 2022 veröffentlichte das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) des Landes Nordrhein-Westfalen eine Studie zur Vorbereitung der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Kinderverschickung.[28]

Das System der Kinderheime für dorthin verschickte Kinder wird heute auch als totale Institution gewertet.[3]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Hilke Lorenz: Die Akte Verschickungskinder. Wie Kurheime für Generationen zum Albtraum wurden. Beltz Verlag, Weinheim 2021, ISBN 978-3-407-86655-4.
  • Anja Röhl: Das Elend der Verschickungskinder. Kindererholungsheime als Orte der Gewalt. Psychosozial-Verlag Gießen, 2021, ISBN 978-3-8379-3053-5.
  • Anja Röhl: Heimweh – Verschickungskinder erzählen. Psychosozial-Verlag Gießen, 2021, ISBN 978-3-8379-3117-4.
  • Lena Gilhaus: Verschickungskinder. Eine verdrängte Geschichte. Kiepenheuer & Witsch, 2023

Filme[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Bert Strebe: „Wir wollen nicht wieder Objekt werden“. In: Deister-Anzeiger, 25. November 2019.
  2. Was war Verschickung? In: Verschickungsheime. Anja Röhl, abgerufen am 26. Juni 2020.
  3. a b c Sabine Seifert: Kuraufenthalte von Kindern: Wir Verschickungskinder. In: taz.de. 14. Dezember 2021, abgerufen am 17. Dezember 2021.
  4. Ruth Lehnen: Das Trauma einer Generation - Viele „Verschickungskinder“ erlebten Zwang und Gewalt. In: Kirchenzeitung für das Erzbistum Köln, Ausgabe 49/21, S. 4 f.
  5. Sylvia Wagner, Burkhard Wiebel: „Verschickungskinder“ – Einsatz sedierender Arzneimittel und Arzneimittelprüfungen. Ein Forschungsansatz. Sozialgeschichte Online 2020, S. 1–32.
  6. Jugendbericht gemäß § 25 Abs. 2 des Gesetzes für Jugendwohlfahrt vom 11. August 1961 (BGBl. I S. 1206) BT-Drs. IV/ 3515 vom 14. Juni 1965, S. 149 ff.
  7. a b c d Lena Gilhaus: Heimerziehung – Albtraum Kinderkur. In: Deutschlandfunk. 1. Mai 2017, abgerufen am 2. September 2020.
  8. Manfred Beck, Sergio Chow, Irmgard Köster-Goorkotte: Kinder in Deutschland: Realitäten und Perspektiven. Hrsg.: Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie (= Tübinger Reihe. Band 16). dgvt-Verlag, Tübingen 1997, ISBN 978-3-87159-216-4.
  9. Ruth Lehnen: Das Trauma einer Generation - Viele „Verschickungskinder“ erlebten Zwang und Gewalt. In: Kirchenzeitung für das Erzbistum Köln, Ausgabe 49/21, S. 4 f.
  10. Verschickungskinder: Kinder-Kurheime jahrzehntelang von NS-Akteuren geleitet – Auch ein Kriegsverbrecher betreute jahrelang Kinder. SWR, 10. August 2020.
  11. Ralf Vogt (Hrsg.): Verleumdung und Verrat – Dissoziative Störungen bei schwer traumatisierten Menschen als Folge von Vertrauensbrüchen. Asanger, Kröning 2014, ISBN 978-3-89334-585-4.
  12. Merten Worthmann, Amrai Coen, Johannes Strempel, Holger Fröhlich und Evelyn Finger: Hilfe, die Ferien sind da! In: Die Zeit. 4. Juli 2013, abgerufen am 3. September 2020.
  13. Sabine Ludwig: Schwarze Häuser. Cecilie Dressler Verlag, Hamburg 2014, ISBN 978-3-7915-1204-4, S. 352.
  14. Todesfälle. In: Verschickungsheime. Anja Röhl, abgerufen am 26. Juni 2020.
  15. Lena Gilhaus: Kinderkuren – Papas Reise ins Dunkel. In: Die Zeit. 30. Juni 2017, abgerufen am 2. September 2020 (Auch erschienen in Christ & Welt).
  16. Impressum verschickungsheime.org, abgerufen am 10. Januar 2021.
  17. Hände hoch – Und dann bin ich verloren! (Memento vom 9. August 2020 im Internet Archive) junge Welt, 9. September 2009, S. 13.
  18. Erklärung – Erklärung der Verschickungskinder Sylt 2019. In: Verschickungsheime. Anja Röhl, 2019, abgerufen am 3. September 2020.
  19. Stephanie Lamprecht: Furchtbare Strafen wie Erbrochenes essen – „Erholungsheime“ als Schikane-Hölle: Die schlimmen Leiden der „Verschickungskinder“. In: Focus. 31. Januar 2020, abgerufen am 26. Juni 2020.
  20. Kindesmisshandlung – Das Elend der Verschickungskinder. In: Bremen Zwei. 21. November 2019, abgerufen am 26. Juni 2020.
  21. Narben auf der Seele – Das Trauma der Verschickungskinder. SWR, 2. Februar 2020.
  22. Systematische Misshandlungen in Kurheimen für Kinder. SWR, 3. Dezember 2019.
  23. Das stille Leid der Verschickungskinder. In: Oberhessische Presse, 28. Juli 2020.
  24. Hilke Lorenz: Verschickungskinder: Für manche hält der Kur-Albtraum bis heute an. In: Stuttgarter Zeitung. 7. Mai 2020, abgerufen am 26. Juni 2020.
  25. Jugend- und Familienministerkonferenz am 27. Mai 2020. Öffentliche Ergebnisniederschrift. S. 13: TOP 2.1 – Ehemalige Verschickungskinder bei der Aufarbeitung der Vergangenheit unterstützen.
  26. Laumann: Schicksal der „Verschickungskinder“ aufarbeiten. In: Die Zeit, 7. Oktober 2020.
  27. Antrag der Fraktion der SPD: Trauma „Verschickungskind“. Verschickt um gesund zu werden – Demütigung und Gewalt gegen Kinder in Kinderheilanstalten. Landtag Nordrhein-Westfalen, Drucksache 17/11175 vom 29. September 2020.
  28. Marc von Miquel: Verschickungskinder in Nordrhein-Westfalen nach 1945 Organisation, quantitative Befunde und Forschungsfragen. Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, 11. Januar 2022, abgerufen am 17. Januar 2022 (deutsch).