Anwesenheitsgesellschaft

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Als Anwesenheitsgesellschaft (englisch meist: face to face society) wird in den Sozialwissenschaften eine Gesellschaft bezeichnet, in der Kommunikation und rechtsgültiges Handeln wesentlich auf der physischen Präsenz der Beteiligten beruht. Die Entwicklung der Medien ist nicht das allein bestimmende Kriterium: Eine Gesellschaft mit hoch entwickelter Medientechnik kann aufgrund kultureller Faktoren trotzdem eine Anwesenheitsgesellschaft sein.

Begriffsgeschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Begriff erlangte im Zuge des Cultural Turn in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts zunehmende Verbreitung in den Bereichen Sozialgeschichte, Kulturgeschichte und Rechtsgeschichte. Wesentliche Beiträge zur Thematik hat unter anderem der in Konstanz lehrende Frühneuzeithistoriker Rudolf Schlögl geleistet. Neben den Sozialwissenschaften der Frühen Neuzeit wird vom Konzept Anwesenheitsgesellschaft auch in der Mediävistik Gebrauch gemacht.

Mögliche Merkmale[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Für Vertragsabschlüsse aller Art müssen die Vertragspartner vor Ort erscheinen.
  • Der Gesetzgebungsprozess läuft über Rats- oder Volksversammlungen ab und nicht per Brief.
  • Für bestimmte öffentliche Ereignisse (z. B. Gottesdienste) wird die physische Präsenz der lokalen Einwohnerschaft erwartet.
  • Heerführer stehen an der Spitze des Heers und operieren nicht vom Hintergrund aus.

Rezeption[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im Zuge der COVID-19-Pandemie wurden kulturelle Praktiken und Rahmenbedingungen, die dem Modell entsprechen, in vielen Staaten temporär oder dauerhaft abgeschwächt. So hat der Deutsche Bundestag die Beschlussfähigkeit bei Online-Teilnahme einzelner Abgeordneter vorläufig zugelassen[1] und prüft die Verstetigung „hybrider“ Sitzungen.[2] Ähnliches gilt für Körperschaften aller Art. Laut Karl-Rudolf Korte sei Deutschland dennoch eine „Anwesenheitsgesellschaft“.[3]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Robert Aunger: The Life History of Culture Learning in a Face-to-Face Society. In: Ethos. Band 28, Heft 3, 2000, S. 445–481.
  • Rudolf Schlögl: Vergesellschaftung unter Anwesenden. Zur kommunikativen Form des Politischen in der vormodernen Stadt. In: Ders. (Hrsg.): Interaktion und Herrschaft. Die Politik der frühneuzeitlichen Stadt. Konstanz 2004, S. 9–60.
  • Renate Dürr/Gerd Schwerhoff: Kirchen, Märkte und Tavernen. Erfahrungs- und Handlunsgräume in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 2005 (= Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit. Band 9, Heft 3/4).
  • Rudolf Schlögl: Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. In: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft. 34, 2008, S. 155–224.
  • Rudolf Schlögl: Anwesende und Abwesende. Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit. Konstanz 2014.
  • Gabriela Signori: Der Stellvertreter, oder: Wie geht eine Anwesenheitsgesellschaft mit Abwesenheit um? In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Germanistische Abteilung). 132, 2015, S. 1–22.

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Neue Beschlussfähigkeit im Bundestag. Bundestagsnachrichten/Antwort hib 331/2020. In: Deutscher Bundestag. Deutscher Bundestag, Parlamentsnachrichten, 25. März 2020, abgerufen am 15. Mai 2020.
  2. RND/dpa: Corona: Möglichkeit eines “Hybrid-Bundestags” wird geprüft. In: Redaktionsnetzwerk Deutschland RND. RND RedaktionsNetzwerk Deutschland GmbH, 24. April 2020, abgerufen am 15. Mai 2020.
  3. Jörg Münchenberg: Politologe zu Corona-Lockerungen. „Das ist Wettbewerbsföderalismus“. Karl-Rudolf Korte im Gespräch mit Jörg Münchenberg. In: Deutschlandradio. 4. Mai 2020, ehemals im Original (nicht mehr online verfügbar); abgerufen am 15. Mai 2020.@1@2Vorlage:Toter Link/www.deutschlandfunk.de (Seite nicht mehr abrufbar. Suche in Webarchiven)