Benutzer:Meister und Margarita/Hollitzer
Die Schutzbefohlenen ist ein Theatertext von Elfriede Jelinek aus dem Jahr 2013.
Hintergrund[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Am 24. November 2012 langte eine Gruppe von Asylwerbern nach einem mehrstündigen Protestmarsch aus dem Flüchtlingslager Traiskirchen im Sigmund-Freud-Park vor der Wiener Votivkirche ein. Sie schlugen ein Protestlager auf und demonstrierten damit gegen menschenunwürdige Bedingungen im Aufnahmelager Traiskirchen. „Als ihre Forderungen nannten die Protestierenden unter anderem Grundversorgung für alle Asylwerber unabhängig von ihrem Rechtsstatus, freie Wahl des Aufenthaltsortes sowie die Anerkennung von sozioökonomischen Fluchtmotiven neben den bisher anerkannten Fluchtgründen.“[1] Auch forderten sie den Austausch sämtlicher Dolmetscher in Traiskirchen und eine bessere Verköstigung. Unterstützt wurden die Demonstrierenden von breiten Schichten der Zivilgesellschaft, darunter die Flüchtlingshelferin Ute Bock und der Kabarettist Josef Hader: „Bock zeigte sich in einem kurzen Statement verärgert, dass es nicht möglich sein solle, ausreichend Quartiere zu finden, um den Belag in Traiskirchen zu reduzieren. Denn das Geld dafür sei da und der Platz auch. Hader fand es gut, dass sich die Flüchtlinge in die Innere Stadt begaben, damit ihre Probleme in den Blickpunkt der Gesellschaft rückten.“[2] Das Innenministerium wies die Kritik der Asylwerber zurück: „Die Unterbringung in Traiskirchen sei menschenwürdig und die Leistungen der Dolmetscher in Ordnung. Entsprechende Kritik an den Übersetzern sei jüngst sogar von der Hilfsorganisation Asyl in Not relativiert worden.“[3] Verköstigt und mit winterfester Kleidung versorgt wurden die Flüchtlinge mittels Spenden.
Das kleine Flüchtlingscamp steht mittlerweile seit 24. November. Es war im Anschluss an einen Asylwerber-Marsch von der damals noch stark frequentierten Erstaufnahmestelle Traiskirchen nach Wien errichtet worden. Die Flüchtlinge fordern unter anderem
Am Internationalen Tag der Migranten suchten etwa 30 Asylwerber aus der Gruppe die Votivkirche als symbolischen „Schutzraum“ auf, da sie meinten, dass ihre Stimmen drei Wochen lang nicht gehört wurden. Der Pfarrer der Kirche versuchte, die Asylwerber unter Zuhilfenahme der Polizei und der Caritas zum Verlassen der Kirche zu bewegen. Sie blieben jedoch dort.
Ebenfalls im Herbst 2012 ertranken hunderte Asyl suchende Menschen aus Somalia und Eritrea vor der Küste von Lampedusa. Die Überlebenden wurden von den italienischen Behörden in den europäischen Norden geschickt.
Als Reaktion auf die Proteste vor und in der Votikkirche und auf die Flüchtlingsdramen im Mittelmeer lässt Elfriede Jelinek in ihrem Stück einen Chor von Flüchtlingen zu Wort kommen. „Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da“, heißt es in dem bild- und sprachmächtigen Oratorium. Die Nobelpreisträgerin für Literatur verschränkt die heutigen Tragödien der Schutzsuchenden mit Motiven aus Aischylos’ Tragödie Die Schutzflehenden und konfrontiert uns mit der bitteren Wahrheit, dass die Menschenrechte eben nicht für alle gelten, sondern nur für die, die es sich leisten können, an Europa teilzunehmen.
Der Text wurde für Nicolas Stemanns Produktion Kommune der Wahrheit bei den Wiener Festwochen 2013 geschrieben, fand dort aber keine Verwendung.
Quellen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Als ihre Quellen nennt Jelinek selbst
- Aischylos: Die Schutzflehenden
- die Broschüre des Bundesministeriums für Inneres: Zusammenleben in Österreich,[4]
- Ovids Metamorphosen, sowie
- eine Prise Heidegger, „die muß sein, denn ich kann es nicht allein.“[5]
Inhalte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Der Text gliedert sich 29 Absätze.
1. Der erste Absatz schildert das Schicksal von Flüchtlingen mit Analogien auf den kalten Kirchenboden, Ölpalme und Olivenbaum, erwähnt „die leuchtenden Wasser der Donau“ und die „Schwerstrafenden in den Behörden“, gipfelt in dem Ausruf: „ja, aber was haben wir hier getan, daß Sie uns in Angst halten“. Das Wort Ich kommt nur in einem Satz 4mal vor, in einem Satz, der von der Angst handelt zurück zu müssen, aber auch von der janusköpfigen Angst, „daß ich bleiben muß, daß ich nicht bleiben darf“. Ansonsten dominiert das chorische Wir den gesamten Einstieg 45mal. Der verwendete Plural ist nie Pluralis majestatis, sondern schildert stets das Kollektiv, selbst in paradoxer Form: „unser Fuß hat Ihr Ufer betreten“.
Zitate aus dem Stücktext[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
„Wir leben. Wir leben. Hauptsache, wir leben, und viel mehr ist es auch nicht als leben nach Verlassen der heiligen Heimat. Keiner schaut gnädig herab auf unseren Zug, aber auf uns herabschauen tun sie schon. Wir flohen, von keinem Gericht des Volkes verurteilt, von allen verurteilt dort und hier.“
„Wir sind gar nicht da. Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da“
„Fast hätte uns die See vernichtet, fast hätten uns die Berge vernichtet, jetzt sind wir in dieser Kirche, doch wo werden wir übermorgen sein und danach?“
Textflächen als stilistisches Kriterium[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Oberhausens Intendant Peter Carp ging gerade noch weiter - und versetzte die "Ich"- und "Wir"-Texte in die Distanz des "Sie", in die dritte Person - so könnten auch "normale" Schauspieler seriös umgehen mit den fremden Empfindungen.[7]
Zur Aufführungsgeschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Der Text wurde für Nicolas Stemanns Produktion Kommune der Wahrheit bei den Wiener Festwochen 2013 geschrieben, fand dort aber keine Verwendung. Daher organisierte das Hamburger Thalia Theater eine Urlesung am 21. September 2013 in der St.-Pauli-Kirche und im Folgejahr auch die szenische Uraufführung zur Eröffnung des Festivals Theater der Welt in Mannheim.
Die Uraufführungsinszenierung wurde im Mai 2014 zweimal zur Eröffnung des Festivals Theater der Welt am Nationaltheater Mannheim und dann viermal im Juni 2015 beim Holland Festival in Amsterdam gezeigt und wurde schließlich ab 12. September 2014 in den Spielplan des Thalia Theaters in Hamburg aufgenommen. Stemanns Inszenierung war, wie viele seiner Arbeiten als Work in progress angelegt, das an den verschiedenen Spielorten weiter entwickelt und teilweise stark verändert wurde.
Hörspielfassung:
- Österreich 1 (Hörspielstudio), 25. März 2014 (Regie: Leonhard Koppelmann, Koproduktion mit dem Bayerischen Rundfunk)
Weitere Theaterinszenierungen:
- Theater Bremen, 14. November 2014, (Regie: Mirko Borscht)
- Theater Freiburg, 28. November 2014, (Regie: Michael Simon)
- Theater Oberhausen, 27. März 2015 (Regie: Peter Carp)
Stimmen der Kritik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
„"Wo werden wir morgen sein und danach? Wo? Wo? Wo?" Anfangs klinge die Frage noch zögerlich, "dann immer lauter. Verzweifelter. Aus verschiedenen Ecken rufen die Afrikaner es in ihrer Sprache. Es wird still, sehr still. Obwohl 400 Menschen in der St. Pauli sind. Viele sitzen auf dem Steinboden, die meisten stehen. 'Bitte helfen Sie uns, Gott, bitte helfen Sie uns, unser Fuß hat ihr Ufer betreten, doch wie geht es jetzt weiter?'“
„Elfriede Jelinek hat mit "Die Schutzbefohlenen" einen wütenden Klagechor über das Elend der Flüchtlinge geschrieben, die in Europa Sicherheit suchen. […] Es geht um die Festung Europa, die für die meisten Asylsuchenden aus Krisen- und Bürgerkriegsländern ein Ort der größten Unsicherheit ist. […] Ein anrührender Klageton stellt sich erst ein, wenn Barbara Nüsse mitmischt und mit Thelma Buabeng und Ernest Allan Hausmann plötzlich dunkelhäutige Schauspieler auf der Bühne stehen. Die beiden konterkarieren die chorischen Bemühungen der weißhäutigen Kollegen, verschmelzen dann aber doch mit dem Chorkörper aus dem Hause Thalia.“
„Doch von der einst bei der Aufführung der „Kontrakte des Kaufmanns“ geborenen Idee, eine theatrale Eingreiftruppe Jelineks zu sein, ist nur das Ablesen des Textes von Zetteln und das Ausstellen von Unperfektion geblieben. Längst ist das, was spontan wirken soll, zur Kunstform erstarrt, die sogar im Scheitern selbstgefällig wirkt.“
Begleitaktivitäten zur Burgtheater-Produktion[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Elfriede Jelinek hat ihren Text Die Schutzbefohlenen als Reaktion auf die Proteste der Asylwerber vor und in der Votivkirche im Dezember 2012 und auf die täglichen Flüchtlingsdramen in Europa geschrieben. Während der Proben zu „Die Schutzbefohlenen“ im Burgtheater suchten zehn der damals beteiligten Refugees wieder nach einer Unterkunft, nachdem sie aus einem privat zur Verfügung gestellten Haus zum Ende des Monats ausziehen mussten. Diese Menschen, die sich in einem laufenden Asylverfahren befinden, bekommen Grundversorgung von der Caritas. Aber Zimmer oder Wohnungen zu finden ist fast unmöglich. Das Burgtheater rief sein Publikum auf, „mit uns gemeinsam diese Asylwerber zu unterstützen!“
Die Caritas unterstützt Flüchtlinge, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Nach den Vorstellungen von „Die Schutzbefohlenen“ sammelte das Burgtheater für den Bildungsfonds der Caritas. Insbesondere Deutschkurse und Basisbildungsangebote geben Menschen nach ihrer Flucht Perspektive und Hoffnung.[8]
Spendenkonto: Erste Bank BIC: GIBAATWWXXX IBAN: AT47 2011 1890 8900 0000 Kennwort: Bildungsfonds für Flüchtlinge
Vorberichte und Kritiken (Auswahl)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Urlesung:
- Hanna-Lotte Mikuteit: Schauspieler und Flüchtlinge lesen „Die Schutzbefohlenen“, Hamburger Abendblatt, 21. September 2013
- Falk Schreiber: Ein Dach über dem Kopf, Nachtkritik.de, 21. September 2013
Uraufführung:
- Peter Michalzik: Wahrheit im Bruch, Die Zeit, 24. April 2014
- Roland Müller: Schlaflos in der Kurpfalz, Berliner Zeitung, 25. Mai 2014
- Jürgen Berger: "Theater der Welt" startet mit Jelinek: Die Katastrophe namens Lampedusa, Der Spiegel, 26. Mai 2014
- Christine Dössel: Wir setzen eins drauf, Süddeutsche Zeitung, 27. Mai 2014
- Stefan Keim: Flüchtlinge sollten nicht ins Theater fliehen, Die Welt, 27. Mai 2014
- Detlev Baur: Differenziert emotional, Die Deutsche Bühne, abgerufen am 23. April 2015
Österreichische Erstaufführung:
- Norbert Mayer: Burgtheater: Die verzweifelte Klage der Schutzbefohlenen, Die Presse, 29. März 2015
- Ronald Pohl: "Die Schutzbefohlenen": Stecken, Stab und Stehtheater, Der Standard, 29. März 2015
- Michael Laages: Werktreu, wie es geschrieben steht, Deutschlandfunk, 29. März 2015
- Michael Laages: Genau, wie es geschrieben steht, Kulturthema SWR2, 31. März 2015
Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
- Elfriede Jelinek, Website (dort ist der gesamte Text der Schutzbefohlenen nachzulesen)
- Die Schutzbefohlenen, Videoausschnitt der Stemann-Inszenierung (2014)
Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
- ↑ Heute: Flüchtlinge dürfen vorerst in Votivkirche bleiben, 19. Dezember 2012
- ↑ Kronenzeitung: Josef Hader und Ute Bock unterstützen Flüchtlingscamper, abgerufen am 26. April 2015
- ↑ a.a.O.
- ↑ Zusammenleben in Österreich, hg. vom Staatssekretariat für Integration im BMI, o.J., abgerufen am 31. März 2015
- ↑ Elfriede Jelinek: Die Schutzbefohlenen, Publikation auf ihrer Website, abgerufen am 24. April 2015
- ↑ Die Radierung Oslers stellt ein berühmtes Werk politischer Anklage dar, da die Flüchtlinge Entbehrungen und den Naturgewalten ausgesetzt sind. Das Werk wurde in William Still: The Underground Railroad (Philadelphia: Porter & Coats, 1872), 103 publiziert und mehrfach kopiert oder nachgezeichnet, siehe When the swallows and swift go…… Black History month follows, 20. Oktober 2013. Jelinek setzt es auf ihrer Website prominent an den Beginn des Textes der '‘Schutzbefohlenen’’ und stellt damit ihren Text bewusst in die Tradition der Kritik an Versklavung, Repression und Vertreibung in den amerikanischen Südstaaten.
- ↑ Langes (Deutschlandfunk), a.a.O.
- ↑ Caritas Wien
Michael Hüttler (geboren 1966 in Tulln) ist ein österreichischer Theaterwissenschaftler, Autor und Verlagsleiter. Seit 2011 leitet er den Verlag Hollitzer.
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