Endspiel Europa

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Ulrike Guérot, Ko-Autorin von Endspiel Europa

Endspiel Europa (Untertitel: Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist − und wie wir wieder davon träumen können) ist ein Essay von Ulrike Guérot und Hauke Ritz, das im Oktober 2022 als Buch im Westend Verlag erschien.[1] Im Buch wird die These aufgestellt, der Krieg in der Ukraine sei ein amerikanischer Stellvertreterkrieg gegen Russland. Das Buch wurde von den etablierten Medien fast einhellig kritisiert, zudem distanzierte sich die Universität Bonn von ihrer Professorin, der Autorin Guérot.

Inhalt[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Auf der ersten Seite des Vorworts heißt es: „Wir bürsten das in den Medien vorherrschende Narrativ eines ausschließlich von Russland begonnenen Krieges gegen den Strich.“ Diese Sichtweise sei in Zeiten „sichtlich eingeschränkter Diskurskorridore“ für viele fast unerträglich.[2] Und auf der letzten Seite des Buchtextes schreiben die Autoren: „Es gilt zu fragen, ob es für Europa nicht ganz grundsätzlich andere Möglichkeiten gibt, mit dem Krieg in der Ukraine umzugehen, als sich Hals über Kopf in amerikanische Hände zu werfen: nämlich die, den Krieg in und um die Ukraine als Katalysator zu nehmen, um alles zu überdenken, was in den letzten Jahrzehnten an europäischer Entwicklung schiefgelaufen ist.“[3]

Guérot und Ritz zeichnen laut eigenen Angaben[4] in drei Kapiteln, jeweils für die 1990er, die 2000er und 2010er Jahre, nach, wie und weshalb Europa nicht zu dem geworden ist, was es – ihrer Ansicht nach – werden wollte und die EU seit mindestens dem Jahr 2000 als politisches Projekt ohne Chance war. Europa nehme heute unüberlegt „Partei für eine geeinte ukrainische Nation, die es in dieser Form nie gab, noch gibt, sondern die wie alle Nationen in Europa ein multi-nationales und multi-ethnisches Produkt der Geschichte, eine ‚imaginierte Gemeinschaft‘, die zu überwinden Europa im letzten Jahrhundert angetreten“ sei.[5] Aus amerikanischen Quellen leiten sie her, dass der Russisch-Ukrainische Krieg ein lange vorbereiteter amerikanischer Stellvertreterkrieg sei, „eine Apotheose jahrzehntelanger amerikanischer Geostrategie, deren eigentliches Ziel die Verfestigung der amerikanischen Dominanz ist Europa ist.“[6] Europa solle von seinen wirtschaftlichen Adern im Osten abgeschnitten werden, es werde eine Politik der „restricted damage“[6], der kontrollierten aber bewussten wirtschaftlichen Schädigung, besonders Deutschlands, betrieben. Europa werde wirtschaftlich und strategisch von den USA gebraucht, solle sich aber nicht emanzipieren und dadurch möglicherweise zu einem Konkurrenten einer längst kränkelnden Weltmacht werden. Die von ihnen vorgetragene Analyse entspringe dem Wunsch nach einem geeinten Europa und einer kontinentalen Friedensordnung.

Es sei ein sofortiger Waffenstillstand auszusprechen und Friedensverhandlungen anzuberaumen. In diesen Friedensverhandlungen müsse es nicht nur um einen Friedensschluss für die Ukraine gehen, sondern um eine europäische „Grand Strategy“, einen neuen großen Entwurf für Europa im 21. Jahrhundert.[7] „Die USA sollten von diesen Verhandlungen eigentlich ausgeschlossen werden.“[8]

Unter der Zwischenüberschrift „Der Ukraine-Krieg als europäische Katharsis“[9] hoffen die Autoren, der Ukraine-Krieg könne zum historischen Auslöser werden, Europa neu zu denken, staatlich aber nicht nationalstaatlich. Die Ukraine setze sich aus dem ehemaligen Galizien, dem Donbass und der Krim zusammen und sollte föderal organisiert werden, statt sich in Richtung einer nationalen Zentralregierung zu organisieren. Ähnlich gelte es für die meisten westeuropäischen Staaten, die aus mehr oder weniger unabhängigen, autochthonen Regionen bestünden, vom Elsass über das Rheinland bis nach Apulien oder Schlesien. Europa müsse in autonomen, kulturell und sprachlich eigenständigen Räumen gedacht werden, die ineinandergreifen, was dazu führen würde, dass wiederholt in (sozial)staatlichen Angelegenheiten, die Grenzen des Nationalstaats überschritten würden.[10] Eine entsprechende Reorganisation der Ukraine lasse sich nur im Rahmen einer kooperativen, föderalen Ordnung zusammen mit Russland erzielen. Derzeit würde der aktuelle Krieg um eine „historisch geradezu absurde territoriale Integrität der Ukraine“ geführt, er könnte aber „dafür genutzt werden, Europas überfällige Loslösung von seinen nationalstaatlichen Konturen zu befördern“. Er böte „die Möglichkeit für eine wahre europäische Katharsis, nämlich zu sich selbst zu finden — wenn Europa bereit ist, seine Denkrichtung zu ändern.“[11]

Rezeption[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Laut FAZ erklärte die Leitung der Universität Bonn ihre Solidarität mit der Ukraine und „rief Guérot ohne namentliche Nennung dazu auf, wissenschaftlich nicht belegbare Behauptungen zu unterlassen und wissenschaftliche Standards einzuhalten.“[12] Die Welt befand, Ulrike Guérot schade mit dem Buch dem Ansehen ihrer Universität[13], der Bonner General-Anzeiger berichtete ähnlich.[14] In einem Gastkommentar zum Buch benannte der Journalist Christian Ortner Guérot in der Wiener Zeitung als „Putins Trollin“. Sie hätte zwar ein Recht auf eine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten. Sie habe im Buch „Kreml-Propaganda in einer Dreistigkeit verbreitet, die selbst der Kreml-Propaganda peinlich wäre, so plump ist sie angelegt.“ Man müsse „schon ein ganz besonderes Talent im Leugnen der Wirklichkeit haben, um völlig faktenwidrig zu behaupten, die Ukraine haben den Krieg begonnen und nicht Russland.“[15] Die Berliner Zeitung zitierte den Osteuropa-Historiker Philipp Ther, der getwittert hatte, Guérot spreche weder russisch noch ukrainisch und habe sich nie näher mit der Nato befasst, es fehle ihr also jede Basis für eine fundierte Einschätzung.[16]

In einem Interview mit Zeit Campus meinte der Moralphilosoph Tim Henning (Universität Mainz), es scheine nicht so zu sein, dass in Guérots Texten lauter logische Fehlschlüsse seien, die sich rein formal aufdecken ließen. Doch sie treffe Aussagen auf Grundlage unzureichender Belege. Logisch sei da aber nichts widersprüchlich oder widersinnig. Es sei schlechte Wissenschaft, weil es schlecht belegt sei.[17]

Der Bonner Osteuropa-Historiker Martin Aust warf dem Buch verschwörungstheoretisches Denken ohne jeden wissenschaftlichen Gehalt vor. Es bediene antiamerikanische Vorurteile, wie sie – allerdings dazu noch antisemitisch aufgeladen – bereits Adolf Hitler vertreten habe, spreche den Ukrainern das Recht auf Selbstbestimmung ab und nutze überwiegend veraltete oder wissenschaftlich substanzlose Quellen: „Am häufigsten wird Peter Scholl-Latour zitiert, bisweilen auch Gabriele Krone-Schmalz“, der unzureichende Anmerkungsapparat bestehe überwiegend aus „Zeitungsartikeln, Internetseiten und publizistischen Texten“. Fachliteratur über Russland, Putin und die Ukraine werde ignoriert - mit der Ausnahme eines Buches über die radikale Rechte in der Ukraine, das selektiv herangezogen werde, um das eigene Narrativ zu stützen. Eine ernsthafte Sichtung und Gewichtung unterschiedlicher Standpunkte und Quellen, wie sie wissenschaftlich geboten sei, unterbleibe und die „Proteste auf dem Maidan in Kyjiw von 2004 und 2013/14, in denen sich die ukrainische Zivilgesellschaft gegen eine gestohlene Präsidentschaftswahl und gegen den Bruch des Versprechens der Assoziation mit der EU wandte, werden hier kurzerhand und unbesehen zu regime-changes der USA“. Das Buch sei insgesamt ein „eklatanter Verstoß gegen wissenschaftliches Ethos“, die Versicherung der Autoren, lediglich einen Essay geschrieben zu haben, diene angesichts des an wissenschaftliche Publikationen angelehnten Anmerkungsapparates als salvatorische Klausel. Das Buch stelle sie als Professorin vor, sie halte sich aber nicht an die dazugehörigen wissenschaftlichen Standards. Aust empfahl seiner Kollegin, falls das Wiederholen von „Verschwörungserzählungen“ ihrem Ideal der Freiheit entspreche, ihre Professur aufzugeben, um „als freie Publizistin befreit von den Regeln der Wissenschaft jegliche Meinung ungeprüft in die Öffentlichkeit zu tragen“. Weitreichende Aussagen würden lediglich durch einzelne Zeitungsartikel belegt, so nähmen Guérot und Ritz die im Daily Mirror veröffentlichte spekulative Vermutung eines britischen Warrant Officer, britische Soldaten könnten in die Ukraine entsandt werden, tatsächlich als ausreichende Grundlage, einen Kriegseintritt des Westens noch für den Herbst 2022 vorauszusagen. Sprachlich erinnere das Buch an „eine politische Propagandarede, die auf Marktplätzen und in Bierzelten gehalten werden könnte“. Das Buch sei ein „eklatanter Verstoß gegen wissenschaftliches Ethos“.[18]

Auch nach Ansicht der Osteuropa-Historikerinnen Franziska Davies und Anna Veronika Wendland verletzt Guérot „die Mindeststandards wissenschaftlichen Arbeitens“. Das Werk lese sich „wie eine Direktabschöpfung aus dem russischen Propagandaküchenkessel“ und zitiere „vorwiegend aus marginalen verschwörungsmythologischen Publikationen“. Des Weiteren werden „aus dem Zusammenhang gerissene Interviews“ und eine selektive Recherche kritisiert. Davies und Wendland bezeichneten die Veröffentlichung des Buches als „Sündenfall der Wissenschaft, der Hochschule und der Linken gleichermaßen“.[19]

Ein Artikel bei Belltower News warf dem Buch Antiamerikanismus und die Übernahme russischer Narrative vor. Guérot und Ritz würden es ablehnen, von einem russischen Angriffskrieg zu sprechen, und stattdessen der Ukraine die Rolle der Kriegstreiberin zuweisen. Es habe – so wird das Buch zitiert – auch „amerikanische, britische und kanadische Kriegsvorbereitungen gegen Russland“ gegeben. Es greife die russische Behauptung auf, die Ukraine sei an einem Biowaffenprogramm der USA beteiligt, das auf „den Genotyp des Feindes zugeschnitten“ sei, denn wollte man eine entsprechende „biologische Waffe“ entwickeln, wäre die Ukraine „ein perfektes Testgebiet, da besonders im Süden und Osten der Ukraine ethnische Russen leben.“ Die Autoren von Endspiel Europa hätten damit eine Argumentation übernommen, die nach Bewertung von Belltower News geradezu „rassentheoretisch“ sei.[20]

Bibliographische Angaben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Ulrike Guérot und Hauke Ritz: Endspiel Europa. Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist und wie wir wieder davon träumen können. Westend, Frankfurt am Main 2022, ISBN 978-3-86489-390-2; Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich im Folgenden stets auf dieses Buch.
  2. S. 13.
  3. S. 179.
  4. S. 34 f.
  5. Ulrike Guérot und Hauke Ritz: Endspiel Europa. Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist und wie wir wieder davon träumen können. Westend, Frankfurt am Main 2022, ISBN 978-3-86489-390-2; S. 18.
  6. a b S. 34.
  7. S. 143 f.
  8. S. 144.
  9. S. 173.
  10. S. 173 f.
  11. S. 176.
  12. Die Universität Bonn distanziert sich von Ulrike Guérot. In Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. November 2022.
  13. „Schadet dem Ansehen“ - Warum die Uni Bonn ein Problem mit ihrer Star-Professorin hat. In Die Welt, 4. November 2022.
  14. Wieder Wirbel um Ulrike Guérot. Professorin bringt die Uni Bonn ins Schlingern. In: General-Anzeiger (Bonn), 3. November 2022.
  15. Christian Ortner: Putins Trollin: In Wiener Zeitung, 3. November 2022.
  16. Susanne Lenz: Ohne den Namen zu nennen: Die Uni Bonn distanziert sich von Ulrike Guérot. In: Berliner Zeitung, 1. November 2022.
  17. "ES IST SCHLECHTE WISSENSCHAFT, WEIL ES SCHLECHT BELEGT IST." Interview: Lars Weisbrod Ulrike Guérot wird für Faktenferne kritisiert. Wo endet die Forschungsfreiheit für die Professorin? Für Philosoph Tim Henning kommt es drauf an, was auf dem Spiel steht. In: Zeit Campus, 4. November 2022.
  18. Martin Aust: Absage an die Wissenschaft – zum Buch “Endspiel Europa” von Ulrike Guérot und Hauke Ritz. In: Ostkreuz Bonn. 28. November 2022, abgerufen am 4. Dezember 2022 (deutsch).
  19. Franziska Davies, Anna Veronika Wendland: GUÉROT & CO: PRO-RUSSISCHE VERSCHWÖRUNGSMYTHEN IM DEUTSCHEN BUCHMARKT. Volksverpetzer, 15. September 2023, abgerufen am 9. März 2024 (deutsch).
  20. Tobias Brück: Antiamerikanismus: Hassobjekt USA. In: Belltower News. Amadeu Antonio Stiftung, 12. Dezember 2022, abgerufen am 30. Dezember 2022 (deutsch).