Eva von Tiele-Winckler

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Eva von Tiele-Winckler – Mutter Eva
Mutter-Eva-Haus in Miechowitz
Schloss Miechowitz um 1860, Sammlung Alexander Duncker

Eva von Tiele-Winckler (* 31. Oktober 1866 auf Schloss Miechowitz, Oberschlesien; † 21. Juni 1930 ebenda) war eine Diakonisse und eine der ersten Frauen in einer Führungsposition bei der Diakonie. Sie war weithin bekannt unter dem Namen „Mutter Eva“.

Leben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Eva von Tiele-Winckler stammte aus einem reichen Elternhaus, der nobilitierten Industriellenfamilie Tiele-Winckler. Die Eltern waren Valeska von Tiele-Winckler (1829–1880) und Hubert von Tiele-Winckler (1823–1893).[1] Als Zweitjüngste der insgesamt neun Geschwister wuchs von Tiele-Winckler im oberschlesischen Dorf Miechowitz in einem Schloss mit 300 Zimmern und umgebendem Park auf, isoliert von der dort ansässigen Bevölkerung. Ihr ältester Bruder Franz Hubert von Tiele-Winckler übernahm nach dem Tod des Vaters die Familiengeschäfte.

Von Tiele-Winckler entschied sich infolge eines frühen Erweckungserlebnisses, Menschen ihrer oberschlesischen Heimat, die durch agrar- und industrierevolutionäre Umwälzungen in Armut und Not geraten waren, zu helfen. Mit Erlaubnis des Vaters, der zunächst gegen eine solche Tätigkeit gewesen war, ließ sich Eva von Tiele-Winckler im Jahr 1887 acht Monate lang in den Bodelschwingh’schen Anstalten im westfälischen Bethel bei Bielefeld in der Krankenpflege ausbilden. Nach der Rückkehr in ihre schlesische Heimat durfte sie 1888 zum ersten Mal ins Dorf gehen und konnte ihre Arbeit in zwei Räumen des Schlosses beginnen. Ende 1888 schenkte ihr der Vater einen Bauplan für ein von ihm finanziertes Haus, in dem sie die begonnene Arbeit weiterführen und ausbauen konnte.[2] Dieses unweit des Schlosses errichtete Gebäude wurde am 29. September 1890 eingeweiht und bildete die Grundlage für Eva von Tiele-Wincklers eigene diakonische Einrichtung für Arme und Alte, Behinderte und Nichtsesshafte, den Friedenshort.[3] Auf dem Gelände in Miechowitz entstanden bis zum Jahr 1929 weitere 28 Gebäude und eine Kirche für die immer umfangreicher werdende soziale Arbeit.[4]

Im Jahr 1893 gründete von Tiele-Winckler mit Unterstützung ihres Mentors Pastor Friedrich von Bodelschwingh eine evangelische Schwesternschaft, in der sie als Vorsteherin und zugleich als Schwester unter Schwestern „gebunden und doch frei“ den Lebensberuf der Diakonisse ausübte.[5] Im März war sie in Bethel „zum Dienst in der Gemeinde Jesu“ als Diakonisse eingesegnet worden.[6] Mehr als 1000 Frauen schlossen sich im Lauf der Jahre ihrer Diakonissengemeinschaft an.[7]

Einen wichtigen Aufgabenbereich sah Eva von Tiele-Winckler darin, heimatlosen Kindern eine Heimat zu schaffen. Entgegen noch vorherrschender Traditionen, hilfsbedürftige Kinder in großen Anstalten wie Rettungs-, Besserungs- oder Waisenhäusern sowie in der Familienpflege unterzubringen, gründete sie mehr als 40 über Dörfer und Städte verstreute „Kinderheimaten“. Hier fanden verlassene Kinder in gemeindenahen, überschaubaren, familienähnlichen und von einer Schwester geleiteten Lebensgemeinschaften ein Zuhause. Eva von Tiele-Winckler und ihre Mitschwestern vertrauten dabei auf die geborgenheitsstiftende Kraft dieser von Frauen gestalteten Gemeinschaften, der sie den Namen „Heimat“ und nicht „Familie“ gaben. Sie waren davon überzeugt, dass sich das Wesentliche in der Erziehung „ereignet“ und sich damit wissenschaftlicher Erklärung und menschlicher Darstellung letztlich entzieht. Das, was sie als das Wesentliche betrachteten, nämlich zu helfen, im Kinde das Bild Gottes herauszugestalten, sei nicht machbar, weder durch pädagogische Handlungen noch durch fürsorgerische Eingriffe. Es bleibe Geheimnis, der göttlichen „Rettungsbarmherzigkeit“ anheimgestellt. Grundlegend dafür war jedoch der Lebenseinsatz der Schwestern: Für die Kinder „mit den kleinen wunden Seelen“ tatkräftig, fröhlich, wagemutig und gottvertrauend arbeiten, liebevolle und verlässliche Beziehungen anbahnen und so durch verantwortliches menschliches Tun das göttliche Rettungswerk ermöglichen. Zusammen mit dem späteren Reichskanzler Georg Michaelis gründete sie zudem unter anderem ein Fürsorgeheim für entlassene strafgefangene Frauen in Langenau (Czernica), für das der mit Michaelis befreundete Rittergutsbesitzer von Klitzing ein Anwesen zur Verfügung stellte.[8]

Finanzielle und materielle Grundlagen dieser Einrichtungen bildeten von Tiele-Wincklers Erbe, die GmbH Heimat für Heimatlose, Schenkungen von Grundstücken und Gebäuden, Sach- und Geldspenden aus Freundeskreisen sowie vereinzelte Pflegegelder der öffentlichen Hand.

Grab von Mutter Eva

Wie zahlreiche Persönlichkeiten aus den Gründerjahren der Inneren Mission war auch Eva von Tiele-Winckler in umfassender Weise publizistisch tätig. Sie verfasste Schwesternbriefe, religiöse Betrachtungen, Bibelauslegungen, Erfahrungstexte, Spruchweisheiten, Gedichte und geistliche Lieder. Unbeeindruckt von akademisch-theologischer Gelehrsamkeit und wissenschaftlicher Bibelkritik wollte sie als schreibende Laientheologin zur Entfaltung einer religiösen Innerlichkeit beitragen und zugleich Anweisungen zu einem gottwohlgefälligen äußeren Leben geben. Ihre frömmigkeitsgeschichtlichen Wurzeln gründen in mittelalterlicher Mystik, im Pietismus und in unterschiedlichen Strömungen der zeitgenössischen internationalen Erweckungsbewegung.

Zum Diakonissenmutterhaus Friedenshort gehört auch die Tiele-Winckler-Haus GmbH, die mehrere Behindertenwohnheime und Wohngruppen in Berlin unterhält.[9]

Anmerkung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Barbara Rohr vermerkt in ihrer Dissertation aus dem Jahr 2005:

Unbekannt oder vergessen scheint auch Eva von Tiele-Wincklers Beitrag zur pädagogischen Arbeit mit Kindern zu sein. Weder in allgemeinpädagogischer noch in sozialpädagogischer oder erziehungsgeschichtlicher Literatur wird sie aufgrund ihrer Fürsorge und Erziehung verlassener, weggeworfener oder verwaister Kinder erwähnt. So wird etwa innerhalb der Diskussion um die nach dem Zweiten Weltkrieg von Hermann Gmeiner gegründeten SOS-Kinderdörfer m. W. nicht darauf verwiesen, dass die Urheberin dieses Konzeptes der nach Alter und Geschlecht gemischten und von „Müttern“ geleiteten vaterlosen „Kinderfamilien“ eigentlich die Schwester Eva von Tiele-Winckler ist.[10]

Allerdings hatte Manfred Berger bereits 1991 darauf hingewiesen, dass insbesondere... die... nach dem Zweiten Weltkrieg geforderte familienorientierte Erziehung im Heim (z. B. Andreas Mehringers 'Münchener Waisenhaus', 'Pestalozzi-Kinderdörfer', 'SOS-Kinderdörfer'), wo gleichsam in 'weltlicher Form' das Diakonat der 'Ersatz-Mutter' gefordert wurde, in 'Mutter Eva' eine geniale Vorkämpferin... hatte.[11]

Schriften[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • „Nichts unmöglich!“ Erinnerungen und Erfahrungen von Schwester Eva von Tiele-Winckler. Oskar Günther Verlag, Dresden 1929.
  • Christenadel. Betrachtungen über Hoheslied 4,6–5,1 Linea Bad Wildbad 2007, ISBN 978-3-939075-25-7.
  • Stille Stunde. Linea Bad Wildbad 2007, ISBN 978-3-939075-17-2.
  • Geisteswirken im täglichen Leben. Linea Bad Wildbad 2007, ISBN 978-3-939075-16-5.

Gedenktag[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

21. Juni im Evangelischen Namenkalender.[12]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

in der Reihenfolge des Erscheinens

  • Gertrud Frischmuth: Glaube und Leben bei Eva von Tiele-Winckler. Bertelsmann, Gütersloh 1938, Neuaufl.: Linea, Bad Wildbad 2007, ISBN 978-3-939075-15-8.
  • Margot Witte: Das große Wagnis. Erinnerungen an Eva von Tiele-Winckler. Berlin, Evangelische Verlagsanstalt, 1957.
  • Alex Funke: Eva von Tiele-Winckler: „Mutter Eva“. Hamburg/Freiburg (Schweiz) 1986.
  • Manfred Berger: Ancilla Domini: Mutter Eva und der „Friedenshort“, in: Der weite Raum 1990/H. 5, S. 106–108.
  • Manfred Berger: Wir stellen Vor: Das Friedenshortwerk, in: Unsere Jugend 1991, S. 213–220.
  • Margret Hahn: Jugendhilfe. Die „Heimat für Heimatlose GmbH“ ;in: Diakonissenmutterhaus Stiftung Friedenshort: 100 Jahre Friedenshort. Liebe macht sehend; Lahr 1996.
  • Paul Toaspern: Eva von Tiele-Winckler: Mutter Eva. Ein Leben aus der Stille vor Gott Neuhausen 1995.
  • Manfred Berger: Tiele-Winckler, Eva Valeska von, in: Hugo Maier (Hrsg.): Who is who der Sozialen Arbeit, Freiburg/Brsg. 1998, S. 589–590.
  • Arkadiusz Kuzio-Podrucki: Tiele-Wincklerowie. Arystokracja węgla i stali Bytom 2006, ISBN 83-923733-0-8 (polnisch).
    • deutsch: Die Tiele-Wincklers. Eine Oberschlesische Kohle- und Stahlaristokratie Tarnowskie Góry, Kiel 2007, ISBN 978-83-924291-5-9.
  • Barbara Rohr: „… mich selbst und alles, was ich war und hatte, hineinwerfen in den Jammer der Zeit“. Würdigung von Lebenswerk und Persönlichkeit Eva von Tiele-Wincklers (1866–1930) vor dem Hintergrund unterschiedlicher Zeitströmungen. Dissertation, Universität Bremen 2005, urn:nbn:de:gbv:46-diss000101314.
  • Walter Thieme: Mutter Eva, die Lobsängerin der Gnaden Gottes: Leben und Werk von Schwester Eva von Tiele-Winckler. Linea, Bad Wildbad 2007, ISBN 978-3-939075-04-2.
  • Gerhard Schiller: Tiele-Winckler, Eva von. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 26, Duncker & Humblot, Berlin 2016, ISBN 978-3-428-11207-4, S. 262 (Digitalisat).
  • Izabella Wójcik-Kühnel: Oberschlesischer Engel der Barmherzigkeit. Eva von Tiele-Winckler. Über das Leben Mutter Evas aus Miechowitz. Katalog zur Ausstellung „Den Armen und Leidenden zur Hilfe: Mutter Eva – ihr Glauben und Leben“ anlässlich des 150. Geburtstages von Eva von Tiele-Winckler. Kulturverein für Schlesien und Mähren, Düsseldorf 2017.
  • Vera Schmilewski: Das sozialkaritative Wirken der Gräfin Maria von Pfeil (1846-1914) und der Diakonisse Eva von Tiele-Winckler (1866-1930). Die Mädchenwaisenhäuser „Caritas“ in Hausdorf, Kreis Neurode. In: Arbeitsgemeinschaft Grafschaft Glatz (AGG): AGG-Mitteilungen, Jg. 19 (2020), S. 49–75.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Joachim Stopik: Beuthen-Miechowitz/Mechtal. Laumann-Verlag, Dülmen 2008, ISBN 978-3-89960-310-1, S. 27.
  2. Eva von Tiele-Winckler: Wie der Friedenshort entstand. 1949, S. 10–37.
  3. Christian-Erdmann Schott: Art. Schlesien. I. Kirchengeschichte. In: Theologische Realenzyklopädie (TRE), Bd. 30, S. 189–198, hier S. 195.
  4. Schwester Eva von Tiele-Winckler: Nichts unmöglich! 4. Auflage. Oskar Günter Verlag, Dresden, S. 14.
  5. Stiftung Diakonissenhaus Friedenshort: Friedenshort-Schwesternschaft (Memento vom 2. Oktober 2013 im Internet Archive), abgerufen am 15. November 2009
  6. Walter Thieme: Mutter Eva, Leben und Werk der Schwester Eva von Tiele-Winckler. Christlicher Zeitschriftenverlag, Berlin 1966, S. 74–75.
  7. Schaukelpferd und Zinnsoldaten. Kindheit und Jugend in Schlesien. Ausstellung des Oberschlesischen Landesmuseums, 8. Juli 2018 bis 19. Mai 2019.
  8. Für Staat und Volk. Eine Lebensgeschichte. Berlin, Furche 1922, S. 245.
  9. Stiftung Diakonissenhaus Friedenshort: Tiele-Winckler-Haus GmbH – Behindertenhilfe – mit Inhalten und Standorten in Berlin (Memento vom 16. Dezember 2011 im Internet Archive), abgerufen am 17. Januar 2012
  10. Barbara Rohr: „… mich selbst und alles, was ich war und hatte, hineinwerfen in den Jammer der Zeit“. Würdigung von Lebenswerk und Persönlichkeit Eva von Tiele-Wincklers (1866–1930) vor dem Hintergrund unterschiedlicher Zeitströmungen. 2005, S. 12
  11. Berger 1991, S. 215
  12. Eva von Tiele-Winckler im Ökumenischen Heiligenlexikon; abgerufen am 21. Juni 2012