Fachsensible Hochschuldidaktik

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Fachsensible Hochschuldidaktik ist ein neuerer hochschuldidaktischer Ansatz, dessen zentrales Thema die Beobachtung und Reflexion fachlicher Besonderheiten von Lehr-, Lern- und Wissenskulturen ist. Die Grundidee wurde vom Hochschuldidaktiker Ludwig Huber in den 1980er Jahren vorgeschlagen[1][2], aber zunächst nicht weiterverfolgt. Fachsensible Hochschuldidaktik ergänzt auf der einen Seite die allgemeine Hochschuldidaktik, die von den Fächern absieht und Lehren und Lernen weitgehend als allgemeine Phänomene diskutiert, auf der anderen Seite die Hochschulfachdidaktiken, die sich jeweils nur mit einem Fach oder einer Fächergruppe beschäftigen.

Ausgangspunkt und Hintergrund[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ausgangspunkt der fachsensiblen Hochschuldidaktik ist die Beobachtung, dass sich Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen zwischen Disziplinen oder Fächern sehr deutlich unterscheiden können. Die Forschung dazu geht einerseits auf den französischen Soziologen Pierre Bourdieu und seine Begriffe von Fachkultur und Habitus zurück, andererseits auf ethnographische Untersuchungen von akademischen Gruppen („tribes and territories“)[3]. Alternative Begriffe sind Denk- und Handlungsweisen („ways of thinking and practicing“)[4] oder moralische Ordnungen („moral orders“)[5]. Allen gemeinsam ist, dass sie davon ausgehen, dass Angehörige von Gemeinschaften sich auf Weisen verhalten, die ihnen weder gänzlich bewusst noch direkt zugänglich sind.

Speziell für hochschuldidaktische Kontexte sind auch Begriffe wie Lehr- oder Lernkultur[6], Lehr- und Lernregimes[7] und Studienprogrammkulturen[8] vorgeschlagen worden. Mit dem zuletztgenannten werden die Perspektiven und Aktivitäten Studierender (ihre Lernaktivitäten im Studienalltag, ihr Handeln und ihre Handlungslogiken) stärker ins Zentrum gestellt, während in den anderen Ansätzen die Lehrenden als bereits sozialisierte oder enkulturierte Mitglieder im Fokus stehen und die Studierenden eher als periphere Akteure gesehen werden. Ebenso kann auch das Konzept der „akademischen Kulturen“ als spezifische „small cultures“[9] herangezogen werden, die in verschiedenen Kontexte berücksichtigen: u. a. Alltagskulturen, Akademischer Habitus, Wissenskulturen, Fachkulturen, Organisationskulturen, Lehr- und Lernkulturen.[10]

Fachkulturelle Unterschiede erschweren nicht nur Verständigung zwischen Disziplinen[11], sondern erzeugen auch spezifische hochschuldidaktische Schwierigkeiten. So werden selbst vermeintlich allgemeine und neutrale hochschuldidaktische Begriffe wie etwa Studierendenorientierung[12] oder Qualität[13] von den Angehörigen unterschiedlicher Fächer unterschiedlich verstanden und hochschuldidaktische Methoden und Formate erscheinen ihnen unterschiedlich sinnvoll.

Ziel fachsensibler Hochschuldidaktik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Fachsensibel sind Ansätze und Vorgehensweisen, welche Aufmerksamkeit auf im Fach als selbstverständlich geteilte, implizite Vorstellungen, Überzeugungen, Praktiken und Werte lenken. Diese sollen zum Gegenstand expliziter Beschreibung und Reflexion werden. Durch die Bewusstmachung können Handlungsspielräume erweitert werden.

Wie genau Lehrende ihre Fachsensibilität entwickeln können, ist noch nicht beschrieben oder untersucht. Ludwig Huber hat bislang lediglich eine höchste Kompetenzstufe beschrieben. Auf dieser können fachspezifische Vorlieben, habitusgebundene Handlungsmuster, Stereotype über andere Fächer oder das eigene Fach und Distinktionen im soziologischen Sinn reflektiert und relativiert werden, was sowohl deren bewussten Einsatz als auch ihre Überschreitung erlaubt.[14] Voraussetzung dafür ist, dass die Lehrenden die Bereitschaft zu einem Perspektivenwechsel haben, bei dem die eigene Fachkultur aus der Distanz beobachtet wird. „Verbunden mit dieser Fähigkeit zum Perspektivenwechsel ist eine Haltung der Offenheit und des Respekts gegenüber anderen Dispositionen, die es erst einmal so gut als möglich zu verstehen gilt, bevor man sich in durchaus nicht ausgeschlossene kritische Auseinandersetzungen mit ihnen begibt“.[15]

Methoden fachsensibler Hochschuldidaktik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Lehrenden wird in Angeboten fachsensibler Hochschuldidaktik ein strukturierter Anlass gegeben, die eigene Fachkultur in ihren Besonderheiten zu beobachten, zu reflektieren und zu relativieren.[16] Hierzu können verschiedene Methoden eingesetzt werden, etwa

  • bildliche oder Theaterverfahren, in denen lehrbezogene Themen inszeniert werden[17]
  • Interpretation von lehrbezogenen Metaphern. Die Mathematikdidaktikerin Anna Sfard hat in westlichen Gesellschaften zwei wesentliche Metaphern für Lernen identifiziert, Aneignen und Teilhaben.[18] Im interkulturellen Vergleich finden sich beispielsweise geist- und tugendorientierte Vorstellungen vom Lernen.[19] Metaphern des Lernens unterscheiden sich auch zwischen Fächern.[20] In Workshops können solche Metaphern in der Lehrpraxis identifiziert und bezüglich ihrer Auswirkungen auf das Handeln kritisch diskutiert werden.
  • Beschreibung und Reflexion der eigenen Fachkultur anhand verschiedener Dimensionen, etwa nach Huber[11] politische und soziale Einstellungen, soziales Klima, Lebensstile und Geschmackspräferenzen, epistemologische Merkmale, Lehrorientierungen und -konzepte, Lehr-Lern-Organisation und Zusammensetzung der Studierendenschaft; wobei die Dimensionen heute unterschiedlich relevant zu sein scheinen.[21] Trowler hat verwandte, aber andere Dimensionen von Lehrkulturen beschrieben, etwa stillschweigende Annahmen dazu, was gutes Studieren ist oder wie bedeutsam nichtfachliche Kompetenzen für ein Studienfach sind, implizite Annahmen über Lehren, Lernen und Bewerten, zum Sinn typischer Fachinhalte, zur Lernfähigkeit von Studierenden oder der Angemessenheit bestimmter Prüfungsformen, und im Fach verbreitete Praktiken, etwa solche des Motivierens und Übens.[7]

Fachsensible Hochschuldidaktik weist Ähnlichkeiten mit dem hochschuldidaktische Ansatz Decoding the Disciplines auf, insbesondere in dem Versuch, implizite fachliche Praktiken explizit zu machen und möglichst genau zu beschreiben.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Fanghanel, J. (2009). Teaching and learning regimes in higher education settings. In C. Kreber (Hrsg.): The university and its disciplines: Teaching and learning within and beyond disciplinary boundaries (S. 196–206). New York, NY: Routledge.
  • Fleischmann, A., Entner, C., Prebeck, A., & Schroeder, J. (2018). Fächersensible Hochschuldidaktik in München. In: Martina Schmohr, Kristina Müller, Julia Philipp (Hrsg.): Gelingende Lehre: erkennen, entwickeln, etablieren: Beiträge der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Hochschuldidaktik (dghd) 2016. Bielefeld 2018, ISBN 978-3-7639-5941-9, (S. 95–110).
  • Huber, L. (1991). Fachkulturen: Über die Mühen der Verständigung zwischen den Disziplinen. Neue Sammlung, 31, 3–24.
  • Huber, L. (2011). Fachkulturen und Hochschuldidaktik. In M. Weil, M. Schiefner, B. Eugster, & K. Futter (Hrsg.): Aktionsfelder der Hochschuldidaktik: Von der Weiterbildung zum Diskurs (S. 109–127). Münster: Waxmann.
  • Kreber, C. (Hrsg.). The university and its disciplines: Teaching and learning within and beyond disciplinary boundaries. New York, NY: Routledge.
  • Rebane, G. (2020). Akademische Kulturen. Abschlussschrift zum ESF-Projekt. Akademische Integration Internationaler Studierender. Chemnitz: Technische Universität Chemnitz. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:ch1-qucosa2-729785
  • Reimann, N. (2009). Exploring disciplinarity in academic development: Do “ways of thinking and practicing” help faculty to think about learning and teaching? In C. Kreber (Hrsg.): The university and its disciplines: Teaching and learning within and beyond disciplinary boundaries (S. 84–95). New York, NY: Routledge.
  • Schaeper, H. (1997). Lehrkulturen, Lehrhabitus und die Struktur der Universität: Eine empirische Untersuchung fach- und geschlechtsspezifischer Lehrkulturen. Weinheim: DSV.
  • Scharlau, I., & Keding, G. (2016). Die Vergnügungen der anderen: Fachsensible Hochschuldidaktik als neuer Weg zwischen allgemeiner und fachspezifischer Hochschuldidaktik. In T. Brahm, T. Jenert, & D. Euler (Hrsg.): Pädagogische Hochschulentwicklung: von der Programmatik zur Implementierung (S. 39–55). Wiesbaden: Springer VS Verlag.
  • Seidl, E. (2022). „Darf ich bitten?“ Fachsensible Hochschuldidaktik als Tanz zwischen Studierenden, Lehrenden und Leitungsverantwortlichen. In G. Schutti-Pfeil, A. Darilion, B. Ehrenstorfer, Barbara (Hrsg.) Hochschuldidaktik gestern – heute – morgen. Tagungsband zum 10. Tag der Lehre der FH OÖ (S. 166–174). Online verfügbar hier.

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Eckart Liebau, Ludwig Huber: Die Kulturen der Fächer. In: Neue Sammlung. Band 25, Nr. 3, 1985, ISSN 0028-3355, S. 314–339.
  2. Gerhard Portele, Ludwig Huber: Entwicklung des akademischen Habitus: zum Problem der Konzeptbildung in der Hochschulsozialisationsforschung. In: Ingrid N. Sommerkorn (Hrsg.): Identität und Hochschule (= Blickpunkt Hochschuldidaktik. Band 64). AHD, Hamburg 1981, ISBN 3-88334-118-5, S. 185–197.
  3. Tony Becher, Paul R. Towler: Academic tribes and territories: Intellectual enquiry and the cultures of disciplines. 2. Auflage. Open University Press, Buckingham, PA: 2001.
  4. Dai Hounsell, Charles Anderson: Ways of thinking and practicing in biology and history: Disciplinary aspects of teaching and learning environments. In: Carolin Kreber (Hrsg.): The university and its disciplines: Teaching and learning within and beyond disciplinary boundaries. Routledge, New York, NY 2009, S. 71–83.
  5. Oili-Helena Ylijoki: Disciplinary cultures and the moral order of studying: A case-study of four Finnish university departments. In: Higher Education. Band 39, 2000, S. 339–362.
  6. Hildegard Schaeper: Lehrkulturen, Lehrhabitus und die Struktur der Universität: Eine empirische Untersuchung fach- und geschlechtsspezifischer Lehrkulturen. Deutscher StudienVerlag, Weinheim 1997.
  7. a b Paul R. Trowler: Beyond epistemological essentialism: Academic tribes in the twenty-first century. In: Carolin Kreber (Hrsg.): The university and its disciplines: Teaching and learning within and beyond disciplinary boundaries. Routledge, New York, NY 2009, S. 181–195.
  8. Tobias Jenert: Studienprogramme als didaktische Gestaltungs- und Untersuchungseinheit: Theoretische Grundlegung und empirische Analyse. Difo, Bamberg 2011.
  9. A Holliday: Small cultures. In: Applied Linguistics. Band 20, Nr. 2, 1. Juni 1999, ISSN 0142-6001, S. 237–264, doi:10.1093/applin/20.2.237.
  10. Gala Rebane: Akademische Kulturen. Abschlussschrift zum ESF-Projekt. Akademische Integration Internationaler Studierender. Technische Universität Chemnitz, Chemnitz 2020, S. 9–10, urn:nbn:de:bsz:ch1-qucosa2-729785.
  11. a b Ludwig Huber: Fachkulturen: Über die Mühen der Verständigung zwischen den Disziplinen. In: Neue Sammlung. Band 31, Nr. 1, 1991, ISSN 0028-3355, S. 3–24.
  12. Gabi Reinmann, Tobias Jenert: Studierendenorientierung: Wege und Irrwege eines Begriffs mit vielen Facetten. In: Zeitschrift für Hochschulentwicklung. Band 6, Nr. 2, 2011, S. 106–122.
  13. Jouni Kekäle: Conceptions of quality in four different disciplines. In: Tertiary Education and Management. Band 8, 2002, S. 65–80.
  14. Ludwig Huber, Eckart Liebau, Gerhard Portele, Wolfgang Schütte: Fachcode und studentische Kultur: Zur Erforschung der Habitusausbildung in der Hochschule. In: E. Becker (Hrsg.): Reflexionsprobleme der Hochschulforschung. Beltz, Weinheim 1983, S. 144–170.
  15. Ludwig Huber: Fachkulturen und Hochschuldidaktik. Hrsg.: Markus Weil, Mandy Schiefner, Balthasar Eugster, Kathrin Futter. Waxmann, Münster 2011, S. 109–127, hier S. 123.
  16. Andreas Fleischmann, Cornelia Entner, Amélie Prebeck, Janina Schroeder: Fachsensible Hochschuldidaktik in München. In: Matthias Schmohr, Kristina Müller, Julia Philipp (Hrsg.): Gelingende Lehre: Erkennen, entwickeln, etablieren. wbv, Bielefeld 2018, S. 95–110.
  17. Margret Bülow-Schramm, Dietlinde Gipser: Hochschulinszenierungen: Der brüchige Habitus von HochschullehrerInnen und Möglichkeiten seiner szenischen Bearbeitung. In: Beatrix Wildt, Ingrid Henschel, Johannes Wildt (Hrsg.): Theater in der Lehre: Verfahren – Konzepte – Vorschläge. Lit-Verlag, Berlin 2008, S. 179–190.
  18. Anna Sfard: On two metaphors of learning and the dangers of choosing just one. In: Educational Researcher. Band 27, Nr. 2, 1998, S. 4–13.
  19. Marieke C. van Egmond, Ulrich Kühnen, Jin Li: Mind and virtue: The meaning of learning, a matter of culture? In: Learning, Culture and Social Interaction. Band 2, 2013, S. 208–216.
  20. Elisabeth Wegner, Matthias Nückles: Knowledge acquisition or participation in communities of practice? Academics’ metaphors of teaching and learning at the university. In: Studies in Higher Education. Band 38, 2015, S. 624–643.
  21. Ingrid Scharlau, Ludwig Huber: Welche Rolle spielen Fachkulturen heute? Bericht von einer Erkundungsstudie. Hrsg.: die hochschullehre. Band 5, 2019.