Fischl Schneersohn

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Fischl Jehoschua Schneersohn (geboren 1887 in Kamjanez-Podilskyj, Gouvernement Podolien, Russisches Kaiserreich, heute Westukraine; gestorben 1958) war ein Rabbiner, Arzt, Schriftsteller jiddischer Sprache und Sozialaktivist.[1]

Leben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Schneersohn entstammte der chassidischen Rabbiner-Dynastie Schneersohn. Mehrere Mitglieder der Familie Schneersohn standen der spirituellen Chabadbewegung des orthodoxen Judentums als geistliche Führer vor (z. B. Menachem Mendel Schneersohn, 1789–1866; Schmuel Schneersohn, 1834–1882; Joseph Isaac Schneersohn, 1880–1950).

Geboren wurde Schneersohn 1887 in der damals zum Russischen Reich gehörenden Stadt Kamjanez-Podilskyj. Er wuchs im Hause seines Großvaters, Sholom Dovber Schneersohn, Rabbiner in Rechitze, auf.[2] Bereits als Jugendlicher[3] wurde er zum Rabbiner ordiniert. Schneersohn studierte von 1908 bis 1913 in Berlin sowie in Petrograd Medizin. In Kiew hatte er die Leitung einer Abteilung für Heilpädagogik inne und widmete sich dort jüdischen Kindern mit Kriegstraumata. In den 1920er Jahren zog er nach Berlin sowie noch vor Beginn des Zweiten Weltkriegs über New York und Warschau nach Tel Aviv.[3]

Werk[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nachdem Schneersohn in den 1920er Jahren erneut eine Wohnung in Berlin bezogen hatte, veröffentlichte er mehrere Artikel zu den individuellen und sozialen Auswirkungen psychischer Störungen. 1927 erschien sein auf Jiddisch verfasstes psychosoziales Hauptwerk Der veg tsum mentsh (Der Weg zum Menschen). Eine englische Übersetzung kam 1929 heraus (Studies in Psycho-Expedition). Sein Ansatz wird als Gegenentwurf zur Psychoanalyse von Sigmund Freud gesehen.[4] Ziel des Werks ist es, psychische Erkrankungen heilen und verhindern zu helfen – auch um in der Zukunft eine bessere, menschlichere Gesellschaft zu erreichen. Schneersohn greift in der Arbeit auf kabbalistische und mystische Motive des Chassidismus zurück.[2]

Im Warschauer Verlag Literarishe bleter erschien 1935 der ebenfalls auf Jiddisch geschriebene Roman Grenadierstraße.[4] Der Roman wurde 2012 aus dem Jiddischen ins Deutsche übersetzt (Alina Bothe). Das Buch liegt in einer von Anne-Christin Saß herausgegebenen Fassung mit Nachwort (Mikhail Krutikov) und Glossar vor, die aus dem DFG-Projekt Charlottengrad und Scheunenviertel hervorgegangen ist.[5] Im Roman beschreibt Schneersohn jüdisches Leben im Berlin der 1920er Jahre und schildert ein komplexes Bild jüdischer Identitäten.[6] Die Grenadierstraße (heute: Almstadtstraße) war das Zentrum des damals stark durch ostjüdische Immigration geprägten Scheunenviertels im Berliner Stadtteil Mitte. Vor dem Hintergrund eines wachsenden Antisemitismus schildert Schneersohn die kulturelle Kluft zwischen den ankommenden Schtetl-Juden aus Osteuropa und den aufgeklärten jüdischen Milieus in Berlin.[7] Geschildert wird die Grenadierstraße als „Sehnsuchtsort“, der die Möglichkeit bietet, dem „Mysterium“ des Judentums jenseits aller liberalen und aufgeklärten Akkulturationsversuche zu begegnen.[8]

Schriften (Auswahl)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Poliklinik der Jüdischen Kinderhilfe : Heilpädagogisches Ambulatorium (Bericht 1923–25). Berlin : Schwetschke, [1925]
  • Psychologie des intimen Kinderlebens : Neue Untersuchungsmethoden und -prinzipien der Phantasie und des Gefühls des normalen und anormalen Kindes. Berlin : Schwetschke, 1926
  • Der Weg zum Menschen : Grundlagen der Menschwissenschaft und die Lehre von der Nervosität. Berlin : Sinaburg, 1928
  • Neue Wege der Sozialpsychologie. Einleitung Paul Plaut. Halle/Saale : Marhold, 1928
  • Die Geschichte von Chajim Grawitzer dem Gefallenen. Aus dem Jiddischen übertragen von Berthold Feiwel. Berlin : Schocken, 1937 (1922)
  • Johan Qeṭner : Roman. (he) Aus dem Jiddischen ins Hebräische übersetzt. Tel Aviv : Massadah, 1953

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Schneersohn, Fischel, in: Salomon Wininger: Große jüdische National-Biographie. Band 5. Czernowitz, 1931, S. 444f.
  • Joseph Heller: Schneersohn, Fischel, in: Jüdisches Lexikon, Band 4, 1930, Sp. 230.
  • Prof Dr. med. Jeshua Fischl Zalman Schneersohn (1887–1958) – Arzt und Kinderfreund. In: Elena Solominski: Helfen bedeutet Leben. Jacob Teitel und der Verband russischer Juden in Deutschland (1920–1935). Dokumente zur Geschiche der russischen Juden in Deutschland. Hentrich und Hentrich, Berlin 2022, ISBN 978-3-95565-548-8, S. 87.

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Lilienthal, U.; Kreft, G.: Ganzheit versus „Psychologischer Skorbut“. Der Rabbiner, Arzt, Belletrist und Sozialaktivist Prof. Dr. med. Fischl Joshua Schneerson (1887–1958). In: Heidel, C.-P. (Hrsg.): Der jüdische Arzt in Kunst und Kultur. Medizin und Judentum, Nr. 11. Mabuse Verlag, Frankfurt am Main 2011, S. 245–263.
  2. a b David Freis: Ecstatic expeditions: Fischl Schneersohn’s “science of man” between modern psychology and Jewish mysticism. In: Transcultural Psychiatry. Band 57, Nr. 6, Dezember 2020, ISSN 1363-4615, S. 775–785, doi:10.1177/1363461520952625 (sagepub.com [abgerufen am 7. November 2023]).
  3. a b Farina Marx, David Freis (2017) „Visnshaftlekhe kontrabande“: Fischl Schneersohn zwischen Kabbalah und moderner Psychologie. Zusammenfassung eines Vortrags im Rahmen des Jiddistik-Kolloquium des Institut für Jüdische Studien der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Verfügbar online, abgerufen 2023-11-07.
  4. a b Wallstein Verlag: Fischl Schneersohn. 2023, abgerufen am 7. November 2023.
  5. DFG - GEPRIS - Charlottengrad und Scheunenviertel Osteuropäisch-jüdische Migranten im Berlin der 1920/30er Jahre. Eine Ausstellung. Abgerufen am 7. November 2023.
  6. Alina Bothe: Da-Zwischen: Jüdische Identitäten in Fischl Schneersohns Grenadierstraße. In: Juliane Sucker, Lea Wohl von Haselberg (Hrsg.): Bilder des Jüdischen: Selbst- und Fremdzuschreibungen im 20. und 21. Jahrhundert. De Gruyter, Berlin, Boston 2013, S. 119–136, doi:10.1515/9783110276572.119.
  7. Carsten Hueck: Das jüdische Berlin vergangener Tage. deutschlandfunkkultur.de, 23. April 2012, abgerufen am 7. November 2023.
  8. Anna-Dorothea Ludewig (2012) Buchbesprechung „Fischl Schneersohn: Grenadierstraße“. Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, Band 64(4):411-412.