Häutungen

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Bildfüllend ist ein Transparent aus braunem Karton mit der Aufschrift in Großbuchstaben: "Ich will neben keines Mannes Brutalität und Verkümmerung gleichberechtigt stehen".
Transparent auf einer Demonstration mit einem Zitat von Verena Stefan, 2019

Häutungen ist ein Roman von Verena Stefan aus dem Jahr 1975. Der autobiografische Text mit dem Untertitel Biografische Aufzeichnungen. Gedichte. Träume. Analysen schildert den Prozess einer jungen Frau, die sich von der Liebe zu Männern ab- und der Liebe unter Frauen zuwendet. Mit diesem Prozess verschränkt ist ein Reflektionsprozess über die einengende Abhängigkeit der Frau von männlichen Frauenbildern und dem Beherrschtwerden durch das Patriarchat, wodurch die sexuelle Transformation zugleich in eine Befreiung mündet und eine lesbische Utopie entworfen wird.

Häutungen war der erste deutschsprachige literarische Text aus der Neuen Frauenbewegung und wurde ein Bestseller. Das Buch wurde in viele Sprachen übersetzt, machte Stefan berühmt und verursachte starke Diskussionen, die zu Fraktionsbildungen und Flügelkämpfen in der feministischen Bewegung der Zeit führten. Es wurde und wird häufig als „Kultbuch“ und „Bibel der Frauenbewegung“ bezeichnet.

Entstehungsgeschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Verena Stefan gehörte seit ihrer Gründung 1972 der feministischen Gruppe Brot und Rosen in Berlin an, mit der sie Frauenkongresse und Aktionen gegen den § 218 organisierte und die das Frauenhandbuch Nr.1 verfasste.[1] Für die Zeitschrift Kursbuch sollte die Gruppe einen Beitrag zum Thema „Wie lässt sich die Emanzipation der Frau mit der Beziehung zu einem Mann vereinbaren?“ schreiben. Zwar wurde dieser Beitrag dann nicht verfasst, bereits zusammengetragene Materialien und Notizen wurden dann jedoch ab 1974[1] zur Basis von Stefans Schreiben von Häutungen.[2] Während der Abfassung des Buches schränkte die ihre Berufstätigkeit als Krankengymnastin ein und lebte zeitweise von weniger als 500 DM in Monat. Das Schreiben eines Buches betrachtete sie als „die geeignetste Form, für die Sache der Frauen zu handeln“.[1]

Form[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Häutungen ist mit 127 Seiten sehr kurz. Der Text ist in vier Teile gegliedert, Schattenhaut, Entzugserscheinungen, Ausnahmezustand und Kürbisfrau. Es hat die Gestalt einer Ich-Erzählung und ist streng autobiographisch angelegt.[3] Formal ist es experimentell, so montiert es Textsorten wie Gedichte, Dialogfragmente oder Tagebucheinträge, stellt verschiedene Beschreibungen gleicher Ereignisse vergleichend nebeneinander, ersetzt das Indefinitpronomen man (erstmals) durch frau und wendet gemäßigte Kleinschreibung an.[4]

Vorangestellt findet sich eine zweiseitige Einleitung, in der Stefan sich zur Sprache des Buches erklärt. Sie empfand die existierende Sprache insbesondere zur Beschreibung von weiblichen Körpern und Sexualität als unzulänglich und schrieb einleitend „Beim schreiben dieses buches, dessen inhalt hierzulande überfällig ist, bin ich wort für wort und begriff um begriff an der vorhandenen sprache angeeckt. […] ich stelle begriffe, mit denen nichts mehr geklärt werden kann, in frage oder sortiere sie aus […] Jedes wort muß gedreht und gewendet werden, bevor es benutzt werden kann - oder weggelegt wird.“[5]

Während Stefan als Konsequenz daraus die heterosexuellen Begegnungen zu Anfang des Buches mit klinischen und medizinischen Begriffen beschrieb, die die Freudlosigkeit ihrer sexuellen Erfahrungen mit Männern umso deutlicher illustrierten, wählte sie zur Beschreibung weiblicher Körper und lesbischen Liebens nach ihrer Hinwendung zu Frauen lyrische Naturmetaphern wie Blüten oder Früchte, was oft kritisiert wurde.[6]

Inhalt[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Stefan schildert in Häutungen die Veränderung einer Frau, die sich aus heterosexuellen Beziehungen in ein lesbisches Lieben wendet. Dabei erkennt sie das Moment der Unterdrückung in heterosexuellen Beziehungen, in der gleichgeschlechtlichen Beziehung hingegen findet sie eine konkrete Utopie.[7]

Im ersten und mit 48 Seiten längsten Teil, Schattenhaut, rekapituliert Veruschka, in Berlin lebend und dort Teil der linken Szene, ihre meist enttäuschenden Erfahrungen in Beziehungen mit Männern. In Entzugserscheinungen schildert sie auf 23 Seiten die Trennungsphase von ihrem Partner, Samuel, das Scheitern des Dialogs mit ihm über die Trennung und den Aufbruch in ein Zusammenleben mit Frauen. Ausnahmezustand schildert auf 36 Seiten die Transition der Protagonistin hin zur Liebe unter Frauen anhand der entstehenden Nähe und Vertrautheit zwischen ihr und Fenna (sowie der sporadischer präsenten Nadjenka, die in einer heterosexuellen Ehe lebt), aber auch der Schwierigkeiten, Hindernisse und Ängste ihrer Verbindungen. In diesem Teil verweigert die Erzählerin, weiterhin medizinische Begriffe auf Körper und körperliche Erfahrungen anzuwenden und eröffnet die Suche nach neuen Begriffen. Im letzten Abschnitt, dem nur 6-seitigen Kürbisfrau, begegnen wir Cloe, die vom Klingeln eines Telefons erwacht und begleiten sie bei ihrer Morgenroutine auf dem Land. Der Teil ist in einem versöhnten und gelösten Ton verfasst.[8]

Hauptthema des Buches ist der Prozess weg von der Selbstaufgabe und Anpassung an die Wünsche und Vorstellungen männlicher Partner während ihrer Suche nach der eigenen, „wahren“ geschlechtlichen Identität und der Hinwendung zu Frauen und der Selbstverwirklichung des weiblichen Ichs in lesbischem Lieben. Im Zuge dessen analysiert sie die gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich in heterosexuellen Beziehungen abbilden und wendet sich als weibliches Subjekt radikal von patriarchalen Definitionen ab: „Ich will neben keines mannes brutalität und verkümmerung gleichberechtigt stehen“.[4] Stefan beschreibt einen Emanzipationsprozess, in dem die Erinnerungsarbeit und die Loslösung von den entfremdenden Beziehungen zum anderen Geschlecht metaphorisch als Häutung erfahren wird. Am Ende des Buches steht der Satz: „der mensch meines lebens bin ich.“[9]

Wirkung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Buch erschien 1975 mit einer Erstauflage von 3000 Exemplaren, die innerhalb eines Monats verkauft wurden.[1] Schon nach einem Jahr wurde das Buch in fünfter Auflage gedruckt.[3] Im Mai 1976 lag die Auflagenhöhe bereits bei 44.000 und im Mai 1977 bei 125.000 Exemplaren.[1] 1984 hatte es eine Auflagenzahl von 250.000[10] und gegen Ende der 1980er von rund 300.000[11] erzielt, obwohl die Werbung nur über Mundpropaganda lief. Sein Erfolg lässt sich zurückführen auf die intensiven Diskussionen, die es unmittelbar nach seinem Erscheinen innerhalb der Frauenbewegung auslöste und die Fraktionsbildungen und Flügelkämpfe in der feministischen Bewegung über die Beziehungen zu Männern zur Folge hatten. Erst nachdem der Erfolg sich bereits eingestellt hatte, begannen auch Mainstreammedien sich mit dem Buch zu beschäftigen.[3] Es ist mit rund 500.000 verkauften Exemplaren das meistgelesene Buch der neueren Frauenliteratur und wurde in acht Sprachen übersetzt,[12] darunter ins Englische, Französische, Italienische und Schwedische.[13]

Häutungen machte zugleich den Aufbau des jungen Verlags Frauenoffensive möglich und schuf einen Markt für „Literatur von Frauen für Frauen“ – aufgrund ihres Erfolgs gründeten sich rasch weitere Frauenverlage, andere Frauen nahmen sich ihr Schreiben zum Vorbild und arrivierte Verlage öffneten sich dem Phänomen.[14]

Für Stefan begann mit dem Erfolg des Buches eine schwierige Zeit, sie geriet in eine Identitätskrise, fand sich unter Publikationsdruck und voller Selbstzweifel. Zahlreiche persönliche Zuschriften von Leserinnen,[7] versuchte Vereinnahmungen durch Fraktionen in der Frauenbewegung, das Herausgehobensein unter jenen, unter denen sie sich eigentlich als „Gleiche unter Gleichen“ verstand, machten ihr zu schaffen und hemmten über lange Jahre ihr Schreiben, erst Mitte der 1980er „war die innere Kakophonie fast verstummt.“[6]

Rezeption[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Häutungen gilt bis heute als der erste deutschsprachige literarische Text aus der neuen Frauenbewegung, als erster zeitgenössischer Text, in dem offen lesbische Liebe thematisiert wurde, und wurde zu einem Symbol des Aufbruchs. Bis in die Gegenwart wird es häufig als „Kultbuch“ und „Bibel der Frauenbewegung“ bezeichnet.[3]

Zeitgenössische Rezeption[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Sophie Behr lobte das Buch 1975 im Spiegel: „Verena Stefans »Häutungen« ist ein beunruhigendes Buch [...] Es zersetzt alle noch legitimen weiblichen Fluchtburgen wie »Liebe«. »Bindung«, »Hingabe«. Zu sich selbst, das ist seine Botschaft, findet man, als Frau, nur partnerlos.“[15] Christa Reinig lobte das Buch 1976 in der Süddeutschen Zeitung, weil es Stefan wider alle Hindernisse gelungen sei, ein weibliches Ich zu artikulieren.[16]

Kritik erfuhr häufig die Darstellung lesbischer Sexualität am Ende des Buches. Stefans Versuch, anhand von lyrischen Naturmetaphern eine eigene, weibliche Sprache zur Erotik unter Frauen zu schaffen, ohne sich der „Sprache der Männer“ zu bedienen, wurde vielfach als trivialer Rekurs kritisiert, sowohl von Leserinnen, in Rezensionen von Mainstreammedien („mißlungener Schluß“[15]) wie aus der Frauenbewegung („triviales Repertoire billiger Pornoautoren“[17]).[3] Später schloss sich Stefan dem an, so habe sie „der Wahrheitsrausch überschwenglich und ungenau werden lassen [...] ich hätte mir eine Lektorin gewünscht, die mir gesagt hätte, warte noch damit, Natur zu beschreiben oder lesbische Liebe und lesbische Körper zu beschreiben, bis du sowohl über das eine wie auch das andere [...] mehr weißt.“[6]

Brigitte Classen und Gabriele Goettle (beide ab 1976 für Die Schwarze Botin tätig) kritisierten in ihrer Rezension, dass diese Darstellung aber nicht nur trivial sei, sondern per „Naturhaftigkeit der Weiblichkeit“ literarische Stereotype von Frauen reproduziere und die weiblichen Figuren weniger real erscheinen lasse als selbst die nur skizzenhaften männlichen Figuren. Letzteres werde dadurch verstärkt, dass die Protagonistin bzw. Stefan den anderen Frauen nicht wirklich begegne, sondern sie zum „Objekt der Selbsterfahrung reduziert“.[17]

Rückblickende Rezeption[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Madeleine Marti nannte das Buch 1993 den „meistgelesenen und meistdiskutierten“ autobiografischen Verständigungstext der 1970er Jahre, Evelyne Keitel ordnete es (neben Luise F. Puschs Sonja und Gerd Brantenbergs Die Töchter Egalias) den sogenannten „literarischen“ Verständigungstexten zu, die den „Diskussionsstand innerhalb der Frauenbewegung um ein essentielles Moment“ erweitert hätten.[7] Christiane Rasper resümierte 1997, Häutungen sei ein „Text, der eine breitgefächerte Diskussion über ‚weibliches Schreiben‘ und ‚weibliche Ästhetik‘ ins Rollen brachte und der als Markstein in die Literaturgeschichtsschreibung einging, weil er ein neues Terrain erschloß.“[3]

Ausgaben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Häutungen. Autobiografische Aufzeichnungen. Gedichte, Träume, Analysen. Frauenoffensive, München 1975, ISBN 3-88104-000-5.
  • Häutungen. Mit einem Vorwort zur Neuausgabe. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 1994, ISBN 3-596-11837-9.
  • Häutungen. Fischer E-Books, Frankfurt am Main 2015, ISBN 978-3-10-560553-0.

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b c d e Verena Stefan: Einige anmerkungen zu mir und zur geschichte dieses buches. In: Häutungen. 19. Auflage. München 1983, ISBN 3-88104-000-5, S. 125–127.
  2. Heide Oestreich: Schriftstellerin Verena Stefan: "Ich bin keine Frau. Punkt." In: Die Tageszeitung: taz. 10. Mai 2008, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 4. November 2023]).
  3. a b c d e f Christiane Rasper: Verena Stefan (* 1947). In: Frauenliebe Männerliebe. J.B. Metzler, Stuttgart 1997, ISBN 3-476-01458-4, S. 409–413, doi:10.1007/978-3-476-03666-7_91.
  4. a b Brigitta Bernet: „Die Fälschungen der eigenen Geschichte korrigieren“. Poesie und Politik in Verena Stefans „Häutungen“. In: Geschichte der Gegenwart. 20. Dezember 2017, abgerufen am 10. Oktober 2023 (deutsch).
  5. Verena Stefan: Einleitung von 1975. In: Häutungen. Mit einem Vorwort zur Neuausgabe (= Die Frau in der Gesellschaft). Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1994, ISBN 3-596-11837-9, S. 26–28.
  6. a b c Verena Stefan: Kakophonie – Vorwort zur Neuausgabe von 1994. In: Häutungen. Mit einem Vorwort zur Neuausgabe (= Die Frau in der Gesellschaft). Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1994, ISBN 3-596-11837-9, S. 4–25.
  7. a b c Madeleine Marti: Hinterlegte Botschaften: Die Darstellung lesbischer Frauen in der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Springer Verlag, 2017, ISBN 978-3-476-03429-8, S. 210–216 (Erstausgabe: J.B. Metzler, 1991).
  8. Verena Stefan: Häutungen. Mit einem Vorwort zur Neuausgabe (= Die Frau in der Gesellschaft). Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1994, ISBN 3-596-11837-9.
  9. Zitiert in: Margret Brügmann: Das gläserne Ich. Überlegungen zum Verhältnis von Frauenliteratur und Postmoderne am Beispiel von Anne Dudens „Das Judasschaf“. In: Mona Knapp, Gerd Labroisse: Frauen-Fragen in der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Rodopi Verlag, Amsterdam 1989, ISBN 90-5183-043-2, S. 253 f.
  10. Madeleine Marti: Hinterlegte Botschaften: Die Darstellung lesbischer Frauen in der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Springer Verlag, 2017, ISBN 978-3-476-03429-8, S. 124 (Erstausgabe: J.B. Metzler, 1991).
  11. Frankfurter Buchmesse: 16. Katalog „Es geht um das Buch“ | BuchMarkt. 20. Oktober 2021, abgerufen am 15. Oktober 2023.
  12. Monika Mengel: Zum Tod der Schriftstellerin Verena Stefan. In: L-Mag. 30. November 2017, abgerufen am 12. Oktober 2023.
  13. Archiv Verena Stefan. In: Schweizerisches Literaturarchiv (SLA). Abgerufen am 12. Oktober 2023.
  14. Verena Stefan – Kritisches Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (KLG). Abgerufen am 10. Oktober 2023.
  15. a b Sophie von Behr: Etwas an seiner Seite. In: Der Spiegel. Band 1975, Nr. 50, 7. Dezember 1975 (spiegel.de [abgerufen am 12. Oktober 2023]).
  16. Madeleine Marti: Hinterlegte Botschaften: Die Darstellung lesbischer Frauen in der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Springer Verlag, 2017, ISBN 978-3-476-03429-8, S. 210–215 (Erstausgabe: J.B. Metzler, 1991).
  17. a b Brigitte Classen, Gabriele Goettle: "Häutungen", eine Verwechslung von Anemone und Amazone. In: Courage: Berliner Frauenzeitung. Band 1976, Nr. 1. Berlin 1976, S. 45–46 (fes.de).