Lenacapavir

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Strukturformel
Strukturformel von Lenacapavir
Allgemeines
Freiname Lenacapavir[1]
Andere Namen
  • N-[(1S)-1-{3-[4-Chlor-3-(methansulfon­amido)-1-(2,2,2-trifluorethyl)-1H-indazol-7-yl]-6-[3-(methansulfonyl)-3-methylbut-1-yn-1-yl]pyridin-2-yl}-2-(3,5-difluor­phenyl)ethyl]-2-[(3bS,4aR)-5,5-difluor-3-(trifluormethyl)-3b,4,4a,5-tetrahydro-1H-cyclopropa[3,4]cyclopenta[1,2-c]pyrazol-1-yl]acetamid (IUPAC)
  • LEN
  • GS-6207
  • GS-CA2
Summenformel C39H32ClF10N7O5S2
Externe Identifikatoren/Datenbanken
CAS-Nummer 2189684-44-2
PubChem 133082658
ChemSpider 81367881
DrugBank DB15673
Wikidata Q105981469
Arzneistoffangaben
ATC-Code

J05AX31

Wirkstoffklasse

Virostatika

Wirkmechanismus

Hemmung der Kapsidfunktion

Eigenschaften
Molare Masse 968,28 g·mol−1
Löslichkeit

3,79 µg·l−1 in Wasser[2]

Sicherheitshinweise
GHS-Gefahrstoffkennzeichnung
keine Einstufung verfügbar[3]
Soweit möglich und gebräuchlich, werden SI-Einheiten verwendet. Wenn nicht anders vermerkt, gelten die angegebenen Daten bei Standardbedingungen.

Lenacapavir ist ein Arzneistoff aus der Gruppe der Virostatika. Unter dem Namen Sunlenca (Hersteller: Gilead Sciences) wurde er 2022 zur Behandlung einer multiresistenten HIV-1-Infektion zugelassen. HIV verursacht das erworbene Immunschwächesyndrom (AIDS). Lenacapavir wird mit anderen antiretroviralen Arzneimitteln kombiniert.

Lenacapavir gehört zu den Kapsid-Inhibitoren und ist der erste zugelassene Vertreter dieser Klasse („First-in-class“).

Eigenschaften[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Chemisch-physikalische Daten[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Arzneilich verwendet wird Lenacapavir in Form seines Natriumsalzes Lenacapavir-Natrium (CAS-Nummer: 2283356-12-5, PubChem: 153435888). Dies ist ein hellgelber bis gelber Feststoff.[2] Lenacapavir ist eine schwache Säure und weist eine mit steigendem pH-Wert zunehmende Löslichkeit auf. Es hydrolysiert pH-abhängig und ist in wässriger Lösung bei einem pH-Wert ≥ 5 am stabilsten.[2] Die log Pow betragen 5,9 (pH 5), 5,3 (pH 7) und 3,6 (pH 9). Es ist der BCS-Klasse 4 (niedrige Löslichkeit, niedriges Permeationsvermögen) zugeordnet.[2]

Lenacapavir tritt in zwei atropisomeren Formen auf, was auf der eingeschränkten Rotation um die Biaryl­bindung beruht. In gelöstem Zustand ist in vitro eine Konversion der Atropisomere zu beobachten.[2]

Antivirale Aktivität[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Lenacapavir besitzt eine für das humane Immundefizienz-Virus (HIV-1 und HIV-2) spezifische antivirale Aktivität. Sie wurde gegenüber verschiedenen Laborstämmen und klinischen Isolaten von HIV in Zellkulturen (T-Lymphoblastoid-Zelllinien, Peripheral Blood Mononuclear Cells (PBMCs), von Monozyten abstammenden Makrophagen und CD4+-T-Lymphozyten) untersucht. Dabei zeigte der Wirkstoff eine Wirksamkeit gegen alle HIV-1-Gruppen (M, N, O) einschließlich der Subtypen A, A1, AE, AG, B, BF, C, D, E, F, G und H; die mittleren effektiven Konzentrationen (EC50) lagen im Bereich zwischen 0,02 und 0,16 nM. Gegenüber HIV-2-Isolaten war Lenacapavir um das 15- bis 25-fache weniger antiviral aktiv im Vergleich zu HIV-1.[4]

Wirkungsmechanismus[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das HIV-1-Kapsid besteht aus einem Gitter aus rund 250 Hexameren (türkisblau) und 12 Pentameren (hellgrün) des Kapsidproteins (CA). Es umschließt das virale Genom und andere essentielle virale Proteine.[5]

Lenacapavir wirkt als selektiver Inhibitor der HIV-1-Kapsid-Funktion, indem es direkt an die Monomeren der hexameren Untereinheiten des Kapsidsproteins bindet. Es kommt zu einer Hemmung der HIV-1-Replikation, indem verschiedene kapsidabhängige Schritte gestört werden, die am viralen Vermehrungszyklus beteiligt sind:[5]

  • Lenacapavir greift in die kapsidvermittelte Aufnahme von proviraler HIV-1-DNA in den Zellkern ein
  • Lenacapavir greift in die gag/gag-pol-Funktion ein und reduziert die Produktion von CA-Untereinheiten
  • Lenacapavir behindert die Ausbildung eines normalen Kapsidkerns durch Störung der Assoziationsrate der CA-Untereinheiten
Strukturformel des Lenacapavir-Analogons GS-CA 1[6] (abweichende Substitution an den mit Pfeilen markierten Stellen)

Der Wirkstoff ist bereits im piko­molaren Konzentrationsbereich wirksam.[5] Lenacapavir bindet an eine hydrophobe Tasche, die an der CTD-NTD-Schnittstelle von zwei benachbarten CA-Monomere innerhalb des Hexamers gebildet wird.[7] Diese Stelle ist dafür bekannt, mit Strukturen der Wirtszelle zu interagieren.[8] Das zentrale Amid und der Pyridinring des Lenacapavir-Moleküls gehen Wasserstoffbrückenbindungen mit Asn57 innerhalb der N-terminalen Domäne (NTD) eines Monomers ein, während die Indazolstruktur und Sulfonamidgruppen Wasserstoffbrückenbindungen mit Gln179 und Asn183 innerhalb der C-terminalen Domäne (CTD) des benachbarten Monomers bilden. Bis zu 6 Lenacapavir-Moleküle können an ein jedes CA-Hexamer binden.[7]

Auf molekularer Ebene wurde Lenacapavir basierend auf röntgenkristallographisch ermittelten Daten konzipiert.[5] Eine ähnliche Struktur hat das Analogon GS-CA1.[9]

Therapeutische Verwendung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Anwendungsgebiet[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Lenacapavir ist in Kombination mit anderen antiretroviralen Arzneimitteln zur Behandlung von Erwachsenen mit einer Infektion mit dem humanen Immundefizienz-Virus (HIV) Typ 1 angezeigt, bei denen ein anderes antivirales Regime nicht ausreichend wirksam oder nicht geeignet ist.

Eine Aufsättigung zu einem therapeutischen Wirkspiegel wird in einer 14-tägigen Einleitungsphase durch drei orale Gaben von Lenacapavir (Tabletten) erreicht. Danach erfolgt die Verabreichung alle 6 Monate als subkutane Injektion (Erhaltungsphase).[2] In des USA ist für den Therapiebeginn alternativ die subkutane Gabe plus zwei zusätzliche orale Dosen an Tag 1 und 2 zugelassen.[4] Der Wirkstoff wird aus dem subkutanen Depot langsam freigesetzt und kaum hepatisch metabolisiert.[2]

Nebenwirkungen und Anwendungsbeschränkungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Als häufigste Nebenwirkungen wurden Reaktionen an der Injektionsstelle (63 %) und Übelkeit (4 %) beobachtet.[2]

Da Lenacapavir ein Substrat von CYP3A, P-gp und UDP-GT1A1 ist, können Induktoren dieser Enzyme die Plasmakonzentrationen von Lenacapavir deutlich herabsetzen, was zu einem Verlust der therapeutischen Wirkung und zur Resistenzentwicklung führen kann. Die gleichzeitige Verabreichung ist daher kontraindiziert. Zu einer Erhöhung der Lenacapavir-Plasmakonzentrationen kann es kommen, wenn auf alle drei Enzym-Signalwege zugleich starke Inhibitoren einwirken.[2]

Klinische Prüfung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Zulassung basiert auf den Ergebnissen der teilweise randomisierten, placebokontrollierten, doppelblinden, multizentrischen Studie CAPELLA (GS-US-200-4625). Untersucht wurden 72 behandlungserfahrene Patienten mit multiresistenter HIV-1-Infektion, die in zwei Kohorten eingeteilt waren.[10]

Der primäre Endpunkt war der Anteil an Patienten in Kohorte 1, die am Ende des 14-tägigen funktionellen Monotherapiezeitraums eine Reduzierung der HIV-1-RNA um mindesten 0,5 log10 Kopien/ml im Vergleich zum Studienbeginn erreichten. Dies war bei 88 % in der Verumgruppe vs. 17 % in der Placebogruppe der Fall. Ein wichtiger sekundärer Endpunkt war eine Viruslast von weniger als 50 Kopien/ml in Woche 26. In Kohorte 1 erreichten 81 % der Patienten nach 26 Wochen eine HIV-1-RNA von unter 50 Kopien/ml, in der Kohorte 2 waren es 83 %.[10] Der mittlere Anstieg der CD4+-Zahl betrug 75 Zellen/mm3 (Kohorte 1) bzw. 104 Zellen/mm3 (Kohorte 2) nach 26 Wochen.[10]

Es wurden keine schwerwiegenden unerwünschten Ereignisse im Zusammenhang mit Lenacapavir beobachtet. Lenacapavir-assoziierte Kapsidmutationen wurden bei 8 Patienten (6 mit M66I-Mutationen) nachgewiesen, die mit einer verminderten Empfindlichkeit gegenüber Lenacapavir einhergingen.[10]

Zulassung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Lenacapavir wurde unter dem Präparatenamen Sunlenca im August 2022 in der EU zugelassen.[11] Es folgten Zulassungen in UK,[12] Kanada[13] und USA[14] (2022) sowie in Australien[15] und Japan[16] (2023).

Sonstiges[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im April 2023 teilte der Zulassungsinhaber Gilead Sciences mit, Lenacapavir nicht in Deutschland zu vermarkten. Aufgrund methodischer Kriterien der „frühen Nutzenbewertung“ könne derzeit ein Zusatznutzen von Sunlenca gegenüber einer „zweckmäßigen Vergleichstherapie“ nicht geltend gemacht werden.[17] Hintergrund ist, dass in Deutschland ein pharmazeutischer Unternehmer mit dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen für ein neues Arzneimittel nur dann einen höheren Preis als den Festbetrag aushandeln kann, wenn ein Zusatznutzen gegenüber einer zweckmäßigen Vergleichstherapie festgestellt wurde. Dazu wird das Arzneimittel einer Nutzenbewertung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) unterzogen.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. INN Recommended List 83, World Health Organisation (WHO), 9. April 2020.
  2. a b c d e f g h i Sunlenca: EPAR - Public Assessment Report, Europäische Arzneimittelagentur, 23. Juni 2022 (PDF; 19,1 MB).
  3. Dieser Stoff wurde in Bezug auf seine Gefährlichkeit entweder noch nicht eingestuft oder eine verlässliche und zitierfähige Quelle hierzu wurde noch nicht gefunden.
  4. a b Sunlenca Prescribing Information, FDA, abgerufen am 3. Oktober 2023 (PDF).
  5. a b c d John O. Link, Martin S Rhee, Winston C. Tse, Jim Zheng, John R. Somoza, William Rowe, Rebecca Begley, Anna Chiu, Andrew Mulato, Derek Hansen, Eric A. Singer, Luke Y. Tsai, Rujuta A. Bam, Chien‐Hung Chou, Eda Canales, Gediminas Brizgys, Jennifer R. Zhang, Jiayao Li, Michael Graupe, Philip Morganelli, Qi Liu, Qi Wu, Randall L. Halcomb, Roland D. Saito, Susan J. Schroeder, Scott E. Lazerwith, Steven Bondy, Debi Jin, Magdeleine Hung, Nikolai Novikov, Xiaohong Liu, Armando G. Villaseñor, Carina Cannizzaro, Eric Hu, Robert L. Anderson, T.C. Appleby, Bing Lu, Judy Mwangi, Albert Liclican, Anita Niedziela-Majka, Giuseppe A. Papalia, Melanie Wong, Stephanie A. Leavitt, Yili Xu, David Koditek, George Stepan, Helen Yu, Nikos Pagratis, Sheila Clancy, Shekeba Ahmadyar, Terrence Z. Cai, Scott Sellers, Scott A. Wolckenhauer, John Ling, Christian Callebaut, Nicolas Margot, Renee Ram, Ya-Pei Liu, Rob Hyland, Gary I. Sinclair, Peter Ruane, Gordon Crofoot, Cheryl McDonald, Diana M. Brainard, Latesh Lad, S. Swaminathan, Wesley I. Sundquist, Roman Sakowicz, Anne Chester, William Lee, Eric S. Daar, Stephen R. Yant, Tomáš Cihlář: Clinical targeting of HIV capsid protein with a long-acting small molecule. In: Nature. 2020, Band 584, Nummer 7822, S. 614–618 doi:10.1038/s41586-020-2443-1.
  6. Externe Identifikatoren von bzw. Datenbank-Links zu GS-CA1: CAS-Nummer: 2189684-45-3, PubChem: 134262970, ChemSpider: 75533866, Wikidata: Q72326339.
  7. a b S.M. Bester, Guochao Wei, Haiyan Zhao, Daniel Adu‐Ampratwum, Naseer Iqbal, Valentine V Courouble, Ashwanth C. Francis, Arun S. Annamalai, Parmit K. Singh, Nikoloz Shkriabai, Peter Van Blerkom, James H. Morrison, Eric M. Poeschla, Alan Engelman, Gregory B. Melikyan, Patrick R. Griffin, James R. Fuchs, Francisco J. Asturias, Mamuka Kvaratskhelia: Structural and mechanistic bases for a potent HIV-1 capsid inhibitor. In: Science. 2020, Band 370, Nummer 6514, S. 360–364 doi:10.1126/science.abb4808.
  8. Shentian Zhuang, Bruce E. Torbett: Interactions of HIV-1 Capsid with Host Factors and Their Implications for Developing Novel Therapeutics. In: Viruses. 2021, Band 13, Nummer 3, S. 417 doi:10.3390/v13030417.
  9. Stephen R. Yant, Andrew Mulato, Derek Hansen, Winston C. Tse, Anita Niedziela-Majka, Jennifer R. Zhang, George Stepan, Debi Jin, Melanie Wong, Jill M. Perreira, Eric A. Singer, Giuseppe A. Papalia, Eric Hu, Jim Zheng, Bing Lu, Susan J. Schroeder, Kevin Chou, Shekeba Ahmadyar, Albert Liclican, Helen Yu, Nikolai Novikov, Eric Paoli, Daniel Gonik, Renee Ram, Magdeleine Hung, William M. McDougall, Abraham L. Brass, Wesley I. Sundquist, Tomáš Cihlář, John O. Link: A highly potent long-acting small-molecule HIV-1 capsid inhibitor with efficacy in a humanized mouse model. In: Nature Medicine. 2019, Band 25, Nummer 9, S. 1377–1384 doi:10.1038/s41591-019-0560-x.
  10. a b c d Sorana Segal‐Maurer, Edwin DeJesus, Hans–Jürgen Stellbrink, Antonella Castagna, Gary Richmond, Gary I. Sinclair, Krittaecho Siripassorn, Peter Ruane, Mezgebe Berhe, Hui Wang, Nicolas Margot, Hadas Dvory‐Sobol, Robert H. Hyland, Diana M. Brainard, Martin S Rhee, Jared M. Baeten, Jean‐Michel Molina: Capsid Inhibition with Lenacapavir in Multidrug-Resistant HIV-1 Infection. In: The New England Journal of Medicine. 2022, Band 386, Nummer 19, S. 1793–1803 doi:10.1056/NEJMoa2115542.
  11. Eintrag EU/1/22/1671 im Unionsregister. In: ec.europa.eu. Abgerufen am 2. Oktober 2023.
  12. Einträge im Register der MHRA, Medicines and Healthcare Products Regulatory Agency. Abgerufen am 5. Oktober 2023.
  13. Sunlenca Subcutanous Injection Solution, Sunlenca Tablets, health-products.canada.ca, abgerufen am 2. Oktober 2023.
  14. NDA 215973, NDA 215974, Drugs @FDA: FDA-Approved Drugs. Abgerufen am 2. Oktober 2023.
  15. Einträge im ARTG, Australian Register of Therapeutic Goods (ARTG), abgerufen am 4. Oktober 2023.
  16. Japan Approves Gilead’s HIV Med Sunlenca, Listing Set for Aug. 9 – PHARMA JAPAN. In: pj.jiho.jp. 14. September 2023, abgerufen am 2. Oktober 2023 (englisch).
  17. S. Ledermüller: Stellungnahme zu Lenacapavir in Deutschland. In: gilead-dialog.de. 17. April 2023, abgerufen am 1. Oktober 2023.