Liber de vita christiana

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Der Liber de vita christiana („Buch über das christliche Leben“) ist eine kanonische Sammlung, die Bonizo von Sutri in den letzten Jahren seines Lebens (nach 1086, vor ca. 1094) kompiliert hat. Die Sammlung ist nach unterschiedlichen Rechtsmaterien in zehn Bücher gegliedert. Anders als die meisten kanonischen Sammlungen der Zeit enthält sie außer Kanones immer wieder auch teils ausführliche Kommentare Bonizos, die in der Forschung (in Anlehnung an die Kommentare Gratians im Decretum Gratiani) meist dicta genannt werden.

Quellen und Inhalt[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Vorwort der Sammlung ist verloren; erhalten sind zehn Bücher und ein kurzer Epilog. Die meisten Bücher haben eine Einführung in Form eines Kommentars von Bonizo selbst, was für Kirchenrechtssammlungen des Früh- und Hochmittelalters ungewöhnlich ist. Die Sammlung enthält über 800 Auszüge aus Dekretalen, Konzilsbeschlüssen und patristischer Literatur. Vor allem die Schriften des Kirchenvaters Augustinus spielen eine große Rolle. Als Vorlagen, denen er diese Materialien entnahm, nutzte Bonizo vor allem den Liber decretorum Burchards von Worms und die Collectio canonum Anselms von Lucca.[1] Viele Passagen haben Parallelen in der Sammlung Anselms, der Collectio Deusdedits und/oder der Collectio II librorum/VIII partium), ohne dass ganz klar wäre, wie diese vier Sammlungen zusammenhängen. Mehrmals zitiert Bonizo, vielleicht nur aus dem Gedächtnis, Texte, die er auch schon in seiner Streitschrift Liber ad amicum verwendet hatte.

Inhaltlich legt der Liber de vita christiana einen starken Schwerpunkt auf die Sakramente und deren theologisches Verständnis. Ungewöhnlich ausführlich für eine mittelalterliche Kirchenrechtssammlung geht er auf unterschiedliche Stände innerhalb der Gesellschaft, ihre jeweiligen Pflichten und ihre wechselseitigen Beziehungen ein.[2] In den Kommentaren (dicta) diskutiert Bonizo regelmäßig verschiedene Rechtsquellen und führt dabei auch historische Argumente ein, wenn es darum geht, ob und wie eine z. B. aus der Spätantike stammende Norm in der eigenen Gegenwart angewandt werden kann.

Zweimal erwähnt Bonizo in seiner Sammlung Anselm II. von Lucca, den er offensichtlich bewunderte. Der Liber lässt auch erkennen, dass Bonizo sich in seinen letzten Lebensjahren von seiner früheren Förderin Mathilde von Canossa abgewandt hatte; seine Kritik an weiblicher Herrschaft ist deutlich auf Mathilde gemünzt.[3] Auch gegenüber Gregor VII. und Urban II. bezieht Bonizo im Liber eine kritische bis resignierte Haltung. Wie Anselm von Lucca und Kardinal Deusdedit verteidigte Bonizo das alte Kirchenrecht gegen aus seiner Sicht unzulässige Neuerungen wie das Papstwahldekret von 1059. Anders als Urban II. war Bonizo überzeugt, dass Schismatiker wie Wibert von Ravenna keine gültigen Weihen spenden konnten.[4]

Rezeption[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Liber de vita christiana fand ausweislich der acht wenigstens als Fragment erhaltenen Handschriften aus dem Mittelalter eine gewisse Verbreitung, jedenfalls in Italien. Gregor von San Grisogono nutzte Bonizos Sammlung als eine seiner Vorlagen, als er im frühen 12. Jahrhundert seine Polycarpus genannte Sammlung zusammenstellte. Einflussreicher als die Sammlung selbst waren die enthaltenen historischen Passagen, die separat zirkulierten.[5]

Edition[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Liber de vita christiana, ed. Ernst Perels (= Texte zur Geschichte des römischen und kanonischen Rechts im Mittelalter Band 1), Weidmann, Berlin 1930. Digitalisat.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Walter Berschin: Bonizo von Sutri. Leben und Werk. (= Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters. Band 2). de Gruyter, Berlin 1972, doi:10.1515/9783110816709.
  • Linda Fowler-Magerl: Clavis Canonum: Selected Canon Law Collections Before 1140: Access with Data Processing (= MGH. Hilfsmittel. Band 21). Hahn, Hannover 2005, ISBN 3-7752-1128-4, S. 174–176.
  • Lotte Kéry: Canonical Collections of the Early Middle Ages (ca. 400–1140): A Bibliographical Guide to the Manuscripts and Literature (= History of Medieval Canon Law). Catholic University of America Press, Washington, D.C. 1999, ISBN 0-8132-0918-8, S. 234–237 (google.de).

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Walter Berschin: Bonizo von Sutri. Leben und Werk (= Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters Band 2). de Gruyter, Berlin 1972, hier Kapitel 2.
  2. Walter Berschin: Herrscher, “Richter”, Ritter, Frauen … Die Laienstände nach Bonizo. In: Love and Marriage in the Twelfth Century, hrsg. von Willy van Hoecke / Andries Welkenhuysen (= Mediaevalia Lovaniensia. Studia Band 8) Leuven 1981, S. 116–129, hier 102.
  3. Walter Berschin: Herrscher, “Richter”, Ritter, Frauen … Die Laienstände nach Bonizo. In: Love and Marriage in the Twelfth Century, hrsg. von Willy van Hoecke / Andries Welkenhuysen (= Mediaevalia Lovaniensia. Studia Band 8) Leuven 1981, S. 116–129, hier 123–124.
  4. Walter Berschin: Bonizo von Sutri. Leben und Werk (= Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters Band 2). de Gruyter, Berlin 1972, hier S. 14–18.
  5. Walter Berschin: Bonizo von Sutri. Leben und Werk (= Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters Band 2). de Gruyter, Berlin 1972, hier S. 97–101.