Neohistorismus

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Markt 7–9, Mainz. Vor dem Krieg standen hier zwei schmale einfache Häuser. Wohl um eine repräsentativere Ansicht zu erhalten, wurden diese nicht rekonstruiert, sondern zwischen 1979 und 1991 dieses neu entworfene Gebäude errichtet

Neohistorismus bezeichnet eine Gestaltungsform der zeitgenössischen und zeitgeschichtlichen Architektur, bei der moderne Bauten in Formen vorangegangener Stilepochen gestaltet werden.[1]

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Immer wieder gab es in der Architekturgeschichte Strömungen, die sich Stilformen vergangener Epochen bedienten. Dies war im Langen 19. Jahrhundert mit dem Historismus der Fall. Über das Ende des eigentlichen Historismus hinaus kam es im 20. Jahrhundert zu neohistoristischen Strömungen etwa dem Neoklassizismus und dem Sozialistischen Klassizismus.

Dem Historismus wie Neohistorismus gingen immense Verluste an überkommener Bausubstanz voran, im 19. Jahrhundert durch die Industrialisierung, im 20. Jahrhundert durch den Zweiten Weltkrieg und die folgende Epoche, die historische Bausubstanz nicht sehr schätzte.[2] Historismus, ebenso wie der Neohistorismus, entstanden so als Reaktion auf ein Verlustgefühl.[3]

Der Neohistorismus richtete sich auch gegen den verbreiteten Brutalismus (ca. 1960 bis 1980), zusammen mit der Postmoderne und dem Neuen Urbanismus. Gleichzeitig nahmen auch Denkmalschutz und Denkmalpflege einen Aufschwung. Seit den 1970er Jahren entstanden wieder Bauten und ganze Stadtviertel, die dem Ideal der Europäischen Stadt verpflichtet sein sollten[4], historische Bauformen aufleben ließen und diese weiterzuentwickeln suchten.[5] Manche Architekturtheoretiker interpretieren dies als einen Teil der Retrokultur, die es auch in zahlreichen anderen Zweigen der Kultur gibt, andere als Kontinuität und Wiederaufnahme der Architekturtradition bis zum „harten Bruch“ durch industrialisierte modernistische Bauweisen.[6]

Form[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einen Schwerpunkt des Neohistorismus bilden innerstädtische Bauten, die durch historisierendes Bauen ein vermeintlich historisches Stadtbild schaffen und so eine städtebauliche Erscheinung zurückholen sollen, die zuvor verloren gegangen ist.[7] Ziel ist es dabei eine „historische“ Atmosphäre zu schaffen.[8] Die Reduktion auf das Atmosphärische ermöglicht es, eine historische Anmutung zu erzielen, ohne wesentliche Abstriche bei Nutzungsmöglichkeiten und technischem Komfort der Gebäude zu machen.

An der University of Notre Dame in den USA gibt es mit der School of Architecture eine Architekturfakultät, die sich der Lehre der traditionellen, vormodernen Architektur und Stadtplanung verschrieben hat (u. a. im Sinne des Neuen Urbanismus) und den Neohistorismus mitentwickelt.[9] Sie vergibt einmal jährlich den hoch dotierten Driehaus-Architektur-Preis.[10][11] Die Londoner Foundation for Building Community von Prinz Charles treibt den weltweiten akademischen Diskurs in diesem Bereich ebenfalls voran.[12] Auch verschiedene Architekten und Architekturbüros lehren ihre Mitarbeiter die Formensprache des Historismus und früherer Stilepochen und lassen sie entsprechend inspirierte Entwürfe umsetzen, so z. B. Hans Kollhoff, Patzschke Architekten Berlin, Léon Krier, Demetri Porphyrios, Andrés Duany, Michael Graves, Pier Carlo Bontempi und Quinlan Terry.

Begriff[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Am Begriff Neohistorismus wird Kritik geübt[13], weil er mit dem „klassischen“ Historismus des 19. Jahrhunderts wenig zu tun habe, der weit mehr an Ergebnissen der architekturhistorischen Forschung orientiert gewesen sei. Die Bezeichnung Postmoderner Historismus wurde vorgeschlagen.[14]

Abgrenzung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Zum Neohistorismus wird nicht gezählt

Beispiele[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Beispiele neohistoristischer Architektur:

Bilder[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Katharina Brichetti: Das heilende Versprechen des Postmodernen Historismus. Historismus und Postmoderner Historismus im Vergleich. In: INSITU. Zeitschrift für Architekturgeschichte 1 (2/2009), S. 135–142.
  • Eva von Engelberg-Dočkal: Historismus oder „Neo-Historismus“ – Ein Versuch zur Charakterisierung der zeitgenössischen historisierenden Architektur. In: INSITU. Zeitschrift für Architekturgeschichte 9 (2/2017), S. 271–282
  • Eva von Engelberg-Dočkal, Gabi Dolff-Bonekämper, Hans-Rudolf Meier: Neo-Historismus? Historisierendes Bauen in der zeitgenössischen Architektur. Jovis Verlag. 2023. ISBN 978-3-86859-610-6

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Engelberg-Dočkal: Historismus, S. 271.
  2. Brichetti: Das heilende Versprechen, S. 136.
  3. Brichetti: Das heilende Versprechen, S. 137.
  4. Europäische Stadt
  5. Engelberg-Dočkal: Historismus, S. 271.
  6. Engelberg-Dočkal: Historismus, S. 275.
  7. Engelberg-Dočkal: Historismus, S. 275.
  8. Engelberg-Dočkal: Historismus, S. 278.
  9. School of Architecture der University of Notre Dame „Twenty years ago the curriculum was reformed to focus on traditional and classical architecture and urbanism.“
  10. Driehaus-Architektur-Preis (englisch)
  11. Brichetti: Das heilende Versprechen, S. 136.
  12. Prince’s Foundation for Building Community in London, eine Stiftung für neue historisierende Architektur
  13. Engelberg-Dočkal: Historismus, S. 280f.
  14. Brichetti: Das heilende Versprechen, S. 136.
  15. Engelberg-Dočkal: Historismus, S. 272.
  16. Engelberg-Dočkal: Historismus, S. 272.
  17. Engelberg-Dočkal: Historismus, S. 276.
  18. Engelberg-Dočkal: Historismus, S. 276.
  19. Engelberg-Dočkal: Historismus, S. 276.
  20. Engelberg-Dočkal: Historismus, S. 276.
  21. Engelberg-Dočkal: Historismus, S. 275
  22. Engelberg-Dočkal: Historismus, S. 276.