Orthotrope Platte

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Herstellung von Teilen einer orthotropen Platte

Eine orthotrope Platte ist ein im Brückenbau als Fahrbahnplatte verwendetes Bauelement, das aus einer Baustahlplatte besteht, die auf der Unterseite mit aufgeschweißten Stahlprofilen in Längs- und Querrichtung versteift ist. Die orthotrope Platte wird als Deckplatte von Hohlkastenbrücken oder Plattenbalkenbrücken in Stahlbauweise, als Fahrbahnträger von Hängebrücken und Schrägseilbrücken sowie bei beweglichen Brücken verwendet. Die Versteifungen verhindern lokale Durchbiegungen, so dass Punktlasten besser im Tragwerk verteilt werden. Die orthotrope Platte ist verglichen mit anderen gleichwertigen Konstruktionen besonders leicht, aber teuer in der Herstellung und empfindlich bezüglich Fehlern in der Detailkonstruktion. Sie wird auch als Stahlleichtfahrbahn bezeichnet.

Herkunft des Begriffes[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Name bildet sich aus den beiden Fachbegriffen orthogonal und anisotrop aus der Festigkeitslehre. Eine Blechplatte ohne Versteifungselemente hätte ein isotropes Verhalten, das heißt, sie würde unabhängig von der Belastungsrichtung jeweils das gleiche Kraft-Verformungs-Verhalten zeigen. Die Versteifungselemente geben der Platte ein von der Belastungsrichtung abhängiges Kraft-Verformungs-Verhalten, so dass ihre Eigenschaften nicht mehr isotrop sind, was in der Fachsprache anisotrop genannt wird. Da die beiden Versteifungen rechtwinklig – in der Fachsprache orthogonal – zueinander stehen, hat die Platte ein orthogonal-anisotropes Verhalten oder, wenn die beiden Begriffe zusammengezogen werden, ein orthotropes Verhalten.

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Untersicht des Hohlkastenträgers der Deutzer Brücke, der oben und auskragend mit einer orthotropen Fahrbahnplatte versehen ist
Untersicht der orthotropen Platte der Mülheimer Brücke

Erste Konstruktionen gehen auf die 1920er Jahre zurück. In Amerika wurden für den Bau von beweglichen Brücken Stahlplatten verwendet, die mit aufgenieteten Stahlträgern versteift wurden. 1938 veröffentlichte das American Institute for Steel Construction (AISC) erste Berichte über eine als Battle Deck Floor bezeichnete Konstruktion, die ähnlich einem Deck auf Schlachtschiffen aufgebaut ist. Sie besteht aus einer Deckplatte aus Stahl, die von Doppel-T-Trägern getragen wird.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt 1948 der deutsche Ingenieur Wilhelm Cornelius, der bei MAN tätig war, ein Patent[1] für eine Straßenbrücke mit Flachblech, welches die Beschreibung der orthotropen Platte enthielt. Die Technik wurde erstmals bei der 1948 eröffneten Deutzer Brücke angewendet, deren Überbau aus einem Hohlkasten in Stahl mit einer orthotropen Deckplatte bestand.[2] Bei der 1951 eröffneten Mülheimer Brücke wurde erstmals ein orthotroper Plattenbalken angewendet.[3] Es folgte 1954 die Weserbrücke in der Porta Westfalica als Stahlhohlkastenbrücke mit orthotroper Fahrbahnplatte.

Die orthotrope Platte war leichter als die bereits bekannten Konstruktionen. Dadurch wurden Baumaterial und Gewicht eingespart, und es konnten besonders schlanke Brücken mit großen Spannweiten gebaut werden.

Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre stürzten gleich vier Stahlhohlkastenbrücken mit orthotropen Platten während der Bauphase ein: die Koblenzer Südbrücke, die Praterbrücke, die Cleddau Bridge und die West Gate Bridge.[4] Der scheinbare Zusammenhang dieser Einstürze führte zu einer Überreaktion in der Fachwelt und zu einer äußerst kritischen Beurteilung dieser Konstruktionen, wobei die orthotrope Platte an den Einstürzen keine Schuld trug und zwei der vier Einstürze durch ungeeignetes Vorgehen während der Bauphase verursacht wurden.[5] Es zeigte sich aber, dass die Konstruktion von Brücken mit orthotropen Platten anspruchsvoll und besonders empfindlich bezüglich Fehlern in Konstruktionsdetails ist. Frühe Konstruktionen verwendeten oft eine zu dünne Deckplatte.[6]

Für allgemeine Anwendungen wurde die Konstruktion mit orthotropen Fahrbahnplatten von Betonbalkenbrücken abgelöst, die kostengünstiger erstellt werden können, da teure Schweißarbeiten entfallen. Außerdem können Betonbrücken bei Bedarf ohne vorgefertigte Teile vor Ort erstellt werden. Orthotrope Fahrbahnträger werden nur noch bei Brücken eingesetzt, bei denen das Gewicht eine entscheidende Rolle spielt, wie zum Beispiel bei beweglichen Brücken oder langen Schrägseil- und Hängebrücken.

Ältere Brücken mit orthotropen Platten sind oft den gewachsenen Verkehrslasten nicht mehr gewachsen und müssen aufwendig saniert werden. Eine Möglichkeit zur Sanierung ist das Aufbringen eines neuen Fahrbahnbelags, der die Lasten besser auf die orthotrope Platte verteilt und diese zusätzlich aussteift.

Aufbau und Funktion des Tragwerks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die orthotrope Platte besteht aus dem Deckblech, den darunter aufgeschweißten Längsrippen und den Querträgern.

Deckblech[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Deckblech kann 10 bis 15 mm dick sein[7] und ist mit einem Fahrbahnbelag aus Gussasphalt bedeckt, der meist etwa 60 mm dick ist. Der Gussasphalt schützt die Deckplatte vor Korrosion und verteilt die Aufstandskräfte von Fahrzeugrädern besser auf die Konstruktion. Die Deckplatte wirkt sowohl für die Längsrippen als auch für die Querstege als Flansch. Bei Verwendung einer orthotropen Platte in einer Plattenbalkenbrücke aus Stahl ist das Deckblech gleichzeitig ein Obergurt für die Längsträger.

Reste der Fahrbahnplatte der alten Haseltalbrücke mit aussteifenden V-Profilen

Längsrippen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Längsrippen haben meist einen trapezförmigen Querschnitt und sind mit zwei Schweißnähten auf der Unterseite der Deckplatte angeschweißt. Sie sind meist zwischen 6 und 10 mm dick und umschließen mit der Deckplatte einen Hohlraum, dessen Festigkeitsverhalten ähnlich einem Hohlkasten ist und die orthotrope Platte torsionssteif macht. Die Längsrippen besitzen manchmal Öffnungen auf der Unterseite, die den Zugang zu den Schrauben ermöglichen, welche die einzelnen Brückensegmente zusammenhalten.

Anstelle der trapezförmigen Rippen wurden andere, weniger geeignete Profile verwendet, meist mit dem Ziel, Patente zu umgehen. Die benutzten Querschnitte waren U-Profile, V-Profile oder Sektkelchprofile. Letztere verursachten gegenüber den anderen Profilen einen viermal höheren Schweißaufwand.[8]

Ursprünglich wurden I-, L- und T-Profile verwendet, bei welchen das Deckblech und die Längsrippe keinen geschlossenen Hohlraum bildeten. Diese Konstruktionen sind gegenüber der Konstruktion mit geschlossenen Längsrippen torsionsweicher, konnten aber einfacher berechnet werden. Außerdem ist die Unterseite der Deckplatte weniger gut vor Korrosion geschützt, da im Vergleich zu orthotropen Platten mit geschlossenen Profilen eine größere Fläche der Luft ausgesetzt ist.

Querstege[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Querträger sind bei orthotropen Platten mit offenen Rippen im Abstand von 1,5 bis 2,5 m angeordnet, bei solchen mit geschlossenen Rippen im Abstand von 3 bis 5 m. Die Querträger sind mit Aussparungen versehen, um die Rippen passieren zu lassen. Die Rippen sind mit den Querträgern verschweißt; einzig im unteren Bereich der Rippe wird die Schweißung manchmal weggelassen und die Aussparung dort so groß bemessen, dass die Rippe nicht berührt wird und dadurch Zwängungsspannungen zwischen Rippe und Querträger beim Durchbiegen der Platte in Längsrichtung vermieden werden.

Die Querstege unterstützen einerseits die Deckplatte in Querrichtung, bilden aber zusammen mit den Längsrippen auch einen Rost, der die Festigkeit der Platte erhöht.

Anwendungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Orthotrope Fahrbahnplatten kommen auch bei Brücken zur Anwendung, bei denen das Gewicht eine sehr wichtige Rolle spielt wie zum Beispiel bei beweglichen Brücken oder langen Schrägseil- und Hängebrücken. Gegenüber reinen Betonkonstruktionen lässt sich mit orthotropen Platten bei solchen Brücken bis zu einem Viertel des Gewichts einsparen, da sowohl Fahrbahnträger als auch tragende Teile leichter ausfallen.

Orthotrope Platten können auch zur Verstärkung bestehender Brücken eingesetzt werden, indem die vorhandene Betonfahrbahnplatte durch eine orthotrope Platte ersetzt wird.

Da die leichtere Konstruktion weniger Wärmekapazität aufweist, kühlt sie – bedingt durch Strahlung oder Wind – schneller aus und es entwickeln sich auf ihrer Fahrbahn schneller Kondenswasser und Eisglätte. Sie erwärmt sich aber auch rascher wieder.

Ausgewählte Beispiele von Brücken mit orthotroper Fahrbahnplatte
Name Ort Land Jahr der
Fertigstellung
Bild Kommentar
Akashi-Kaikyō-Brücke Awaji und Kōbe Japan Japan 1998 Längste Hängebrücke der Welt
Viaduc de Millau Millau Frankreich Frankreich 2004 Schrägseilbrücke mit dem flächenmäßig größten orthotropen Fahrbahnträger der Welt
Pont Gustave Flaubert Rouen Frankreich Frankreich 2008 Hubbrücke in der Hafeneinfahrt von Rouen
Golden Gate Bridge San Francisco Vereinigte Staaten Vereinigte Staaten 1937 (1986) Beispiel für eine Brücke, deren bestehendes Fahrbahndeck zur Entlastung der Konstruktion durch eine orthotrope Fahrbahnplatte ersetzt wurde
Nordhordlandsbrua Vestland Norwegen Norwegen 1994 Schrägseilbrücke kombiniert mit einer Schwimmbrücke
Mülheimer Brücke Köln Deutschland Deutschland 1951 Erste Brücke Deutschlands mit orthotroper Fahrbahnplatte
Theodor-Heuss-Brücke Düsseldorf Deutschland Deutschland 1957 Brücke der Düsseldorfer Brückenfamilie, erste Schrägseilbrücke Deutschlands
Zweite Weserbrücke
in der Porta Westfalica
Porta Westfalica Deutschland Deutschland 1954 Erste Stahlhohlkastenbrücke mit orthotroper Fahrbahnplatte Europas und bei Fertigstellung der größte vollverschweißte Stahlüberbau Europas, 1995 abgebrochen
Europabrücke (Brenner Autobahn) in der Nähe von
Innsbruck
Osterreich Österreich 1963
St. Albanbrücke Basel Schweiz Schweiz 1955 1973 abgebrochen und durch die Schwarzwaldbrücke ersetzt

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • A. Mangus, Sun Shawn, Wai-Fah Chen, Lian Duan: Bridge Engineering Handbook. 1. Auflage. CRC Press, Boca Raton, Florida 1999, Kap. 14: Orthotropic Deck Bridges (freeit.free.fr [PDF]).
  • Karl-Eugen Kurrer: Geschichte der Baustatik. Auf der Suche nach dem Gleichgewicht. Ernst und Sohn, Berlin 2016, ISBN 978-3-433-03134-6, S. 606–618.
  • Karl-Eugen Kurrer: On the history of the orthotropic bridge deck. In: Progress in Steel and Composite Structures. Edited by B. Gosowski, K. Rykaluk, J. Ziółko. DOLNOŚLĄSKIE WYDAWNICTWO EDUKACYJNE, Wrocław 2011, ISBN 978-83-7125-203-7, S. 52–65.
  • Karl-Eugen Kurrer: Évolution de la dalle orthotrope dans la construction de ponts métalliques. In: L’architrave, le plancher, la plate-forme. Nouvelle histoire de la construction sous la direction de Roberto Gargiani. Presses polytechniques et universitaires romandes Lausanne, Lausanne 2012, ISBN 978-2-880-74893-7, S. 686–695.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wiktionary: orthotrope Platte – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Commons: orthotrope Platte – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Patent DE847014: Straßenbrücke mit Flachblech. Veröffentlicht am 2. Oktober 1952, Erfinder: Wilhelm Cornelius.
  2. Steel Continuous Girder Bridges. NISEE, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 13. September 2014; abgerufen am 6. Oktober 2013 (englisch).  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/nisee.berkeley.edu
  3. Leonhardt, Fritz (1909–1999). In: great-engineers.de. Brandenburgische Technische Universität Cottbus, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 22. September 2013; abgerufen am 13. September 2013.  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.tu-cottbus.de
  4. A. Mangus, Sun Shawn, Wai-Fah Chen, Lian Duan: Bridge Engineering Handbook. 1. Auflage. CRC Press, Boca Raton Fl 1999, Kap. 14: Orthotropic Deck Bridges, S. 38 (freeit.free.fr [PDF]).
  5. Joachim Scheer: Versagen von Bauwerken: Brücken. John Wiley & Sons, 2000, ISBN 978-3-433-01802-6 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  6. Manual for design, construction, and maintenance of orthotropic steel deck bridges. (PDF; 10,4 MB) Federal Highway Administration, Februar 2012, S. 6, abgerufen am 21. September 2013 (englisch).
  7. CONTEC FERROPLAN® System zur Erneuerung und Verstärkung von orthotropen Stahlbrücken. Ferroplan, abgerufen am 5. Oktober 2013.
  8. Instandsetzung orthotroper Fahrbahnplatten. (PDF; 3,9 MB) Bundesanstalt für Straßenwesen, 19. Oktober 2005, abgerufen am 21. September 2013.