Verkehrsversuch

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Ein Verkehrsversuch (auch Verkehrsexperiment, englisch traffic experiment) ist eine verkehrsplanerische Intervention, die Lernen und einen Erkenntnisgewinn anstrebt. In einem weiteren Verständnis (nach Luca Bertolini als Street Experiment bezeichnet) kann zusätzlich ein Wandel des Verkehrs bezweckt werden und sogar im Vordergrund stehen. Unter diesen Oberbegriff können zum Beispiel auch Pop-Ups (wie ein Pop-Up-Radweg) und andere temporäre oder permanente Umgestaltungen einer Straße fallen.[1]

Deutsches Straßenverkehrsrecht[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im deutschen Straßenverkehrsrecht ist ein Verkehrsversuch eine zeitlich befristete Maßnahme im Straßenraum, um sie im Rahmen eines Modellversuchs vor ihrer dauerhaften Umsetzung lokal zu untersuchen und zu erproben. Rechtsgrundlage für eine entsprechende verkehrsbehördliche Anordnung ist die Straßenverkehrs-Ordnung (StVO), genauer § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 ([2]).[3][4]

Es dürfen jedoch nicht nach dem Prinzip von „Versuch und Irrtum“ im Sinne einer freien, voraussetzungslos anwendbaren Experimentierklausel verkehrsregelnde Maßnahmen zur Probe getroffen werden. § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO setzt vielmehr voraus, dass die Anordnung von Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen wie Schranken und Sperrpfosten auf Grund der besonderen Umstände zwingend erforderlich ist.[5]

Seit einer Änderung der StVO zum 28. April 2020[6] bedarf es nicht mehr des Nachweises und einer aufwändigen Begründung einer besonderen örtlichen Gefahrenlage (nach der Rechtsprechung eine um ca. ⅔ gesteigerte Gefahrenlage) für eines der in § 45 StVO genannten Rechtsgüter wie die Verkehrssicherheit oder den Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen (§ 45 Abs. 9 Satz 3, Satz 4 Nr. 7 StVO[7]. Damit wurde der behördliche Spielraum für zeitlich und örtlich begrenzte Pilotprojekte vergrößert.[8]

Beispiele[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nach einem einjährigen Verkehrsversuch ab Juli 2016 wurde im Dezember 2019 der Umbau der Sendlinger Straße in München zur Fußgängerzone abgeschlossen.[9][10]

Die Flaniermeile Friedrichstraße wurde 2021 in Berlin-Mitte als Verkehrsversuch durchgeführt und evaluiert.[11] Dort wurde der Kfz-Verkehr auf benachbarte Straßen umgeleitet. Der Radverkehr wurde auf Teilen der bestehenden Fahrbahn mit gelben Markierungen geführt. Der restliche Teil der Fahrbahn sollte außer für zeitweise frei gegebene Lieferfahrfahrzeuge dem Fußverkehr vorbehalten sein.

Der Verkehrsversuch Ottensen macht Platz in Hamburg[12] wurde mit dem Deutschen Verkehrsplanungspreis 2020 ausgezeichnet.[13] Dabei wurden mehrere Straßen für 6 Monate weitgehend für den fahrenden und ruhenden Kfz-Verkehr gesperrt und die Flächen umgenutzt. Die versuchsweise eingerichtete Beschilderung für eine Fußgängerzone wurde vom Verwaltungsgericht allerdings beanstandet.[14][15] Am 25. Mai 2022 wurde von der Bezirksversammlung Altona nach einem umfangreichen Beteiligungsverfahren das Projekt „freiRaum Ottensen - das autoarme Quartier“ beschlossen.[16]

In Kassel wurde im Herbst 2021 der nördliche Teil der Unteren Königsstraße für vier Wochen als Freiluft-Experiment weitgehend von Kfz-Verkehr entlastet, mit entsprechenden verkehrlichen Änderungen. Nur einzelne Parkplätze auf einer Straßenseite und eine Tiefgaragenzufahrt waren weiterhin nutzbar. Das Projekt diente der Verkehrsberuhigung.[17] Dieses Projekt wurde aber verkehrsrechtlich nicht als Verkehrsversuch beantragt und durchgeführt, sondern die Beschränkungen beim fließenden Kfz-Verkehr wurden für eine Folge von Veranstaltungen vorgenommen[18] (ähnlich wie, wenn auch mit kürzerer Dauer, bei Marathonläufen, Fanmeilen oder ähnlichem).

Für Ärger und ausufernde Streitereien bis hin zu einer Morddrohung gegen den zuständigen Bürgermeister sorgen in Dresden die ab dem 8. April 2024 verkehrswirksam und von vornherein in Form eines Verkehrsversuches auf dem Mittelstreifen der Loschwitzer Brücke (bekannt als „Blaues Wunder“) beidseits angelegten Fahrradstreifen, die nach Ansicht dessen Kritiker das auf der Brücke herrschende Verkehrschaos verschlimmert haben. Am 16. April 2024 gab die Stadtverwaltung auf Grund des erheblichen öffentlichen Drucks den vorzeitigen Abbruch des Verkehrsversuches bekannt, der nunmehr zum 28. April 2024 beendet wird; ursprünglich sollte dieser bis 10. Juni 2024 andauern.[19]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Jan Peter Glock: Reallabor, Real-Labor, Intervention oder Verkehrsversuch? Konzeptionelle Aufarbeitung der Begriffsvielfalt um Ansätze des Wandels im Kontext der Umwandlung städtischen Verkehrsraums. In: Journal für Mobilität und Verkehr. Nr. 19, 8. Dezember 2023, ISSN 2628-4154, S. 7, doi:10.34647/jmv.nr19.id122 (qucosa.de [abgerufen am 12. Dezember 2023]).
  2. StVO § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6: „Die Straßenverkehrsbehörden können die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten und den Verkehr umleiten. Das gleiche Recht haben sie (...) 6.zur Erforschung des Unfallgeschehens, des Verkehrsverhaltens, der Verkehrsabläufe sowie zur Erprobung geplanter verkehrssichernder oder verkehrsregelnder Maßnahmen.“
  3. Verkehrsversuch. In: Mobilikon. Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung, abgerufen am 12. Dezember 2023.
  4. VG Frankfurt am Main, Beschluss vom 31. August 2021 - 12 L 1802/21.F Rz 22 ff.
  5. VG Neustadt/Weinstraße, Beschluss vom 18. Februar 2011 - 1 L 78/11.NW.
  6. Vierundfünfzigste Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 20. April 2020, BGBl. I S. 814
  7. StVO, §45 Abs. 9 § 45 Satz 3, Satz 4 Nr. 7: „Insbesondere Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs dürfen nur angeordnet werden, wenn auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt. Satz 3 gilt nicht für die Anordnung von (...) 7. Erprobungsmaßnahmen nach Absatz 1 Satz 2 Nummer 6 zweiter Halbsatz“ (siehe Fußnote 1)
  8. Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften. BR-DRs. 591/19 vom 7. November 2019, S. 52, 56, 86.
  9. muenchen.de: Fußgängerzone in der Sendlinger Straße ist fertig. Abgerufen am 22. Dezember 2019.
  10. Umweltbundesamt: Fact Sheet zum Vorhaben „Verkehrliche und stadtplanerische Maßnahmen zur Neuverteilung und Umwidmung von Verkehrsflächen des motorisierten Verkehrs zugunsten aktiver Mobilität und einer nachhaltigen urbanen Siedlungsstruktur mit hoher Lebensqualität.“ Stand: 11/2020.
  11. Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz: Flaniermeile Friedrichstraße. Zwischenbericht – Datenstand Juni 2021. Berlin, Oktober 2021.
  12. Bezirksamt Altona: Ottensen macht Platz. Über das Projekt Abgerufen am 29. März 2023.
  13. Bezirk Altona: „Ottensen macht Platz“: Experiment gewinnt Deutschen Verkehrsplanungspreis. 5. Februar 2021.
  14. Hamburg: Schwerer Rückschlag für Verkehrsversuch „Ottensen macht Platz“ 28. Januar 2020.
  15. Peter Wenig: Autoarme Zone in Ottensen - wie geht es jetzt weiter? Hamburger Abendblatt, 25. August 2020.
  16. Bezirk Altona: Vorzugsvariante überzeugt Politik: Bezirksversammlung Altona beschließt das Verkehrskonzept.
  17. Freiluft Experiment Untere Königsstraße Kassel 4. September — 3. Oktober 2021. Abgerufen am 29. März 2023.
  18. Hardingshaus, Michael et al.2023: Maßnahmen zur Neuverteilung und Umwidmung von Verkehrsflächen, Seite 14
  19. Dirk Hein: Dresden beendet Verkehrsversuch am Blauen Wunder vorzeitig. In: Sächsische Zeitung vom 17. April 2024, Ausgabe Dresden, S. 13.