Benutzer:Gimli21/Nowitschok-Baustelle

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Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Entwicklung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Enthüllung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Frühe Kenntnisse über Nowitschok durch den Bundesnachrichtendienst[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Stellungnahmen der Entwickler Ugljow und Mirsajanow im März 2018[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Vergiftungsfälle[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Struktur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nowitschok-Kampfstoffe basieren auf Phosphorsäureestern. Mirsajanow zählt[1] die Substanzen A-230, A-232 und A-234 zu den grundlegenden Substanzen der Nowitschok-Reihe sowie außerdem die russische Variante des VX (Substanz 33, VR). Davon erhielten Substanz 33 und A-230 die Zulassung als chemische Waffen, wobei von Substanz 33 nach Mirsajanow 15.000 Tonnen produziert wurden, von A-230 nur experimentelle Mengen (einige zehn Tonnen). A-232 wurde ebenfalls in experimentellen Mengen produziert, aber nicht zugelassen als Waffe, die Substanz war nach Tucker instabil.[2] Von A-232 wurde die binäre Version Nowitschok-5 entwickelt und 1989 als chemische Waffe zugelassen, von ihr wurden aber nach Mirsajanow nur wenige Tonnen produziert. Außerdem wurden nach Mirsajanow zwei weitere binäre Waffen entwickelt, eine unbenannte Nowitschok-Substanz (als chemische Waffe 1990 zugelassen) und Nowitschok-7 (1993 getestet), beide in experimentellen Mengen (einige zehn Tonnen) produziert. Nowitschok-5 ist nach Mirsajanow unter günstigen Bedingungen fünf- bis achtmal wirksamer als VX. Die Wirkstoffe der Nowitschok-Gruppe kommen vermutlich in flüssiger, teilweise auch in fester Form vor und können durch Injektion, Inhalation oder transdermale Applikation in den Körper gelangen. A-230 und A-232 durchdringen die Blut-Hirn-Schranke und gelangen schnell vom Blutkreislauf in das Zentralnervensystem.[3]

Strukuren nach Mirzajanow: A-230, A-232, A-234

A-230 wurde zuerst von Pjotr Petrowitsch Kirpitschow (Kirpichev) im Waffenlabor in Schichany entwickelt als stickstoffhaltige organische Phosphorverbindung und ist eine viskose Flüssigkeit, die bei −10 Grad Celsius (14 Grad Fahrenheit) kristallisiert und damit bei kaltem Wetter für den geplanten Waffeneinsatz Probleme bereitete.[4] Darauf variierte der Chemiker Ugljow, der ab 1975 am Institut war, mit seinen Kollegen A-230 auf die unterschiedlichsten Weisen, darunter den vielversprechenden Kandidaten A-232. Die Molekülstruktur von A-232 bzw. Nowitschok-5 (der Binärkomponente) ist sehr ähnlich zu der von A-230, mit dem wichtigen Unterschied, dass A-230 eine direkte Kohlenstoff-Phosphor-Bindung besitzt, wohingegen beim A-232 das Kohlenstoff- mit dem Phosphoratom über ein Sauerstoffatom verbunden ist.[5] Tucker bezeichnet außerdem A-230 als Phosphonat und A-232 als Phosphat. Weil die Vorläufersubstanzen und Abbauprodukte von A-232 keine direkte Kohlenstoff-Phosphorbindung enthalten, versagen einige Nachweismethoden für Nervengifte und die Produktion von A-232 lässt sich besser vor Waffenkontrollinspektionen gemäß dem CWC und ausländischen Geheimdiensten verbergen.[6] A-232 hat jedoch aus militärischer Sicht den Nachteil gegenüber A-230, dass es zwei- bis dreimal weniger toxisch als A-230 ist und sich bei Kontakt mit Wasser schnell zersetzt.[5] A-230 und A-232 wurden zuerst 1976 in der Chemiewaffenfabrik in Wolgograd getestet und erwiesen sich in Feldtests etwa fünf- bis achtmal toxischer als VX bzw. dessen russische Variante VR.

In den 1980er-Jahren entstanden binäre Versionen der Kampfstoffe und wurden als eigentliche Nowitschok-Substanzen bekannt, die Binärversion von A-232 als Novichok-5; die erste Binärversion wurde für VR (R 33, russisches VX) entwickelt. Diese Substanzen ließen sich auch besser lagern, was das Problem umging, dass A-232 wie A-230 in der unitären Version instabil und somit nicht lagerungsfähig war.[7] Da die Ausgangsstoffe aus Grundstoffen bestehen, die auch für die Herstellung chemischer Produkte in der Landwirtschaft zum Einsatz kommen, waren die Waffenprogramme relativ einfach zu verschleiern. Laut Mirsajanow war das Forschungsprogramm „so ausgerichtet, dass man die Produktion der Chemikalien unter dem Deckmantel einer legitimen, kommerziellen Produktion verbergen konnte.“ Strategisch sei es darum gegangen, ein kaum nachweisbares, hochpotentes und relativ sicher zu lagerndes Nervengift zu produzieren. Getestet wurden die neuen Stoffe zwischen 1988 und 1993 in Industrielaboren in Russland und Usbekistan. Laut dem Whistleblower Mirsajanow wurden mindestens zwei Nowitschok-Varianten in das Arsenal von Chemiewaffen der russischen Armee aufgenommen.[8]

Veröffentlichte Strukturformeln[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Angaben und Vermutungen in der Literatur zu den möglichen Strukturen von Nowitschok sind widersprüchlich und mit großen Unsicherheiten behaftet. Häufig werden keine Quellen angegeben oder diese vage gelassen und es scheint keine unabhängigen Untersuchungen zu geben, welche die vorgeschlagenen Strukturen verifizieren. Angesichts der Gefährlichkeit der Substanzen würde dies spezielle Hochsicherheitslabore erfordern. Chemiker, die an staatlichen Laboratorien mit solchen Möglichkeiten angestellt waren, wie Robin Black aus dem britischen Chemiewaffenlabor in Porton Down, gaben dazu keine eigenen Erkenntnisse preis. 2016 schrieb dieser zu Nowitschok in einem Übersichtswerk über chemische Kampfstoffe:[9]

“Information on these compounds has been sparse in the public domain, mostly originating from a dissident Russian military chemist, Vil Mirzayanov. No independent confirmation of the structures or the properties of such compounds has been published.”

„Informationen über diese Verbindungen waren dürftig in der öffentlichen Literatur und stammen hauptsächlich von einem russischen Militärchemiker und Dissidenten Wil Mirsajanow. Keine unabhängige Bestätigung der Strukturen oder der Eigenschaften dieser Verbindungen wurde veröffentlicht.“

Die Strukturen von Mirsajanow, die dieser 2009 in seiner Autobiographie veröffentlichte, werden zum Beispiel in einem Aufsatz in Chemical Engineering News von Mark Peplow von 2018 präsentiert,[10] in einem Aufsatz der tschechischen Wissenschaftler Emil Halámek und Zbyněk Kobliha von 2011[11] und Mirsajanows Strukturformel für A-232 findet sich darauf bezugnehmend auch in einem Sammelband herausgegeben von Ramesh C. Gupta von 2015.[12] Jonathan Tucker schreibt in seinem Buch War of nerves,[13] dass die britischen und US-amerikanischen Regierungen die Struktur von Nowitschok kennen würden, sich aber weigerten, diese offenzulegen und auf die Liste des Chemiewaffen­kontrollabkommens CWC zu setzen aus Angst davor, dass Terroristen oder Drittstaaten mit Ambitionen Chemiewaffen herzustellen diese Erkenntnisse nutzen könnten.

Neben Mirsajanow werden häufig Strukturformeln zitiert, die Steven L. Hoenig, ein Chemiker und Chemical Terrorism Coordinator der Gesundheitsbehörden von Florida in Miami, 2007 in einem Buch über Chemiewaffen veröffentlichte,[14] für die dieser aber keine Quellen angab.[15] Er präsentierte vor Mirsajanows Veröffentlichung abweichende Strukturformeln für A-230, -232, -234 und deren mögliche Vorläufersubstanzen, die er als Nowitschok-5, Nowitschok-7 und eine weitere Nowitschok-Komponente (Nowitschok-??) bezeichnet, für die er auch mögliche Synthesewege angibt und sogar CAS-Nummern. Diese werden auch in dem Aufsatz von Halámek und Kobliha von 2011 reproduziert neben den Formeln von Mirsajanow.

Strukuren nach Hoenig und Ellison für A-230, A-232, A-234
Strukuren nach Hoenig: Nowitschok-??, Nowitschok-5 und Nowitschok-7


Darüber hinaus gibt es eine Veröffentlichung von D. Hank Ellison,[16] in der verschiedene Substanzen als Novichok agents aufgelistet sind. Für die Substanzen sind CAS-Nummern angegeben, jedoch werden A-230, A-232 und A-234 nicht zugeordnet. Unter den 11 angegebenen Substanzen finden sich aber die von Hoenig als A-230, A-232 und A-234 bezeichneten Substanzen wieder. Ähnliche Strukturen finden sich auch noch in Fachliteratur aus dem Jahr 2014.[17]

weiter Strukturen nach Ellison und Balali-Mood: 17642-30-7, 17642-31-8 und 17642-28-3

Bereits 1999 zeigte allerdings E. M. White vom Chemiewaffenforschungszentrum der US-Streitkräfte in vergleichenden Studien zu Struktur-Wirkungsbeziehungen von organischen Phosphorverbindungen mit Fluor am Phosphor, die als AChE-Hemmer wirken, dass es einen Zusammenhang von Reaktivität und Toxizität gibt, wobei die Strukturen wie die von Hoenig vorgeschlagenen außerhalb des Optimums für die Toxizität liegen.[18] Die Toxizitätswerte (Maus, LD 50, intravenös) liegen bei den Strukturen von Hoenig[19] nach White bei 11,6 Mikromol pro Kilogramm Körpergewicht, bei Sarin und Cyclosarin bei 0,78.

Die Quellen von Ellison scheinen nach dessen Literaturverzeichnis[20] hauptsächlich die offene russische Literatur über organische Phosphorverbindungen aus den 1970er- und 1980er-Jahren zu sein.

Ausgangspunkt sind in beiden Fällen organische Phosphorsäureester oder Phosphonsäureester. Bei Hoenigs Strukturen handelt es sich um Fluoro-Phosphonate, am zentralen Phosphoratom sind neben den zwei Sauerstoffatomen ein organischer Rest und ein Fluor gebunden, bei Mirsajanows Strukturen handelt es sich um Fluorphosphonsäureamide, das heißt ein Sauerstoffatom ist durch ein Stickstoffatom ersetzt, welches organische Reste trägt. Beide Strukturvorschläge enthalten außerdem Imine. Die Strukturen A-230, A-232 und A-234 nach Mirsajanow haben Amidin-Seitenketten am Phosphor, darüber hinaus veröffentlichte Mirsajanow die Strukturen für Nowitschok-5 (A 242) und Nowitschok-7 (A 262), die Guanidin-Seitenketten am Phosphor haben mit drei statt zwei Stickstoffatomen wie bei den Amidinen.[21] Das Imin in den Strukturen nach Hoenig ist Teil eines Oximesters.

Strukuren nach Marzajanow für A-242 und A-262

Lange war unklar, welche der Strukturen richtig sind. Eine Wende brachte der Fall Skripal 2018. In der Folge setzten sich in öffentlich zugänglichen Quellen die Strukturformeln von Mirsajanow durch. Nach einem Bericht im niederländischen NRC Handelsblad vom 21. März 2018[22] war die Struktur von Nowitschok im Westen schon lange bekannt, man hatte sich aber insbesondere bei den Amerikanern und Briten geeinigt, Stillschweigen zu bewahren (was ab 2010 über WikiLeaks-Depeschen belegbar ist) und die Stoffe samt Vorläufersubstanzen auch nicht in den Chemikalienanhang zum internationalen Chemiewaffen-Abkommen der OPCW aufzunehmen (im Gegensatz zu VR, dem sogenannten russischen VX, das dem westlichen VX ähnelt und wie dieses schon bekannt war).

VX und VR, die gemäß Chemiewaffenkonvention verboten sind

Ein Indiz, dass sie schon länger im Detail bekannt war, ist nach dem Artikel auch, dass die britischen Wissenschaftler in Porton Down die Substanz im Fall Skripal relativ schnell identifizieren konnten. Die in der offenen Literatur veröffentlichten Formeln waren dem Handelsblad zufolge möglicherweise bewusste Fehlinformationen. Außerdem haben nach dem Handelsblad inzwischen führende Chemiewaffenexperten wie Julian Perry Robinson von der University of Sussex, der schon in den 1970er-Jahren in SIPRI-Berichten über chemische und biologische Waffen veröffentlichte, die Richtigkeit der 2009 von Mirsajanow veröffentlichten Formeln bestätigt und das Handelsblad führt auch einen Chemiker vom niederländischen Chemiewaffenlabor TNO-Institut in Rijswijk, den inzwischen verstorbenen Henk Benshop, dafür an. Robinson äußerte schon 2014 gegenüber dem Handelsblad, dass in westlichen Waffenlaboren (wie Porton Down in England und Edgewood in den USA) vor allem an zwei Substanzen geforscht würde, Nowitschok und Peptiden, und der damalige Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats der OPCW, der Tscheche Jiří Matoušek, bemerkte schon 2006, dass in Edgewood an Nowitschok geforscht würde. Nach Wikileaks (Cablegate 2010) gaben die Amerikaner im April 2010 den Briten den Rat, jede Erwähnung von Mirsajanows Formeln, die 2009 erschienen waren, zu vermeiden. Nach Mirsajanow war das FBI über seine Veröffentlichung nicht glücklich und verfolgte auch, wer sein in einem kleinen Verlag erschienenes Buch kaufte. Nach Ansicht von Mirsajanow stellte die Veröffentlichung keine Gefahr dar, da für Terroristen die Herstellung aufgrund extremer Sicherheitserfordernisse nicht möglich sei. Der Handelsblad-Artikel hebt auch darauf ab, dass die Russen möglicherweise durch den Doppelagenten Sergeant Joe Cassidy, der in den 1960er-Jahren in Edgewood arbeitete, wo unter anderem VX entwickelt wurde, von den Amerikanern mit Falschinformationen über einen nicht-existenten Kampfstoff GJ versorgt wurden. Die Amerikaner hätten dabei aber auch der Glaubwürdigkeit wegen nützliche Informationen weitergegeben, was die Entwicklung des russischen VX und Nowitschok eventuell befördert hätte. Mirsajanow hielt dies für unwahrscheinlich aus seiner Kenntnis der stets misstrauischen sowjetischen Geheimdienstauswertung am GosNIIOKhT-Institut durch Boris Gladstein und der Arbeitsweise des Nowitschok-Erfinders Kirpitschow. Das Fazit des Handelsblad-Artikels lautet:[23]

“It is now certain that the description given by the Russian chemist Vil Mirzayanov in 2009 of the novichoks in his book ’State Secrets’ is correct. His structural formulas are gradually being copied into manuals.”

„Es ist nun sicher, dass die Beschreibung der Nowitschoks des russischen Chemikers Wil Mirsajanow von 2009 in seinem Buch State Secrets korrekt ist. Seine Strukturformeln werden schrittweise in die Handbücher übernommen.“

Karel Knip

Ein Online-Artikel des Science Magazins vom 19. März 2018 zitiert den Chemiker Zoran Radić von der University of California, San Diego,[24] der sich schon seit langer Zeit mit der Wirkungsweise von Nervenkampfstoffen auf Acetylcholinesterase-Hemmer-Basis befasst und ebenfalls von der Formel von Mirsajanow ausgeht. Er präsentierte eine molekulare Modellierung der Wirkungsweise von A-232 nach Mirsajanow, die wie bei anderen Nervenkampfstoffen wie Tabun, Sarin und Soman auf die Phosphorylierung eines Serins hinausläuft. Er bestätigte auch, dass sich die Substanz gut in das aktive Zentrum des Enzyms einfügt. Eine im Vergleich zur Struktur der anderen Nervenkampfstoffe zusätzliche Alkyl-Aminogruppe bereite ihm aber Sorgen, einmal in Hinblick auf die Wirkung der üblichen Oxime als Gegenmittel, zum anderen in Hinblick auf die Wirkung auf andere Enzyme außer AChE, was spätere neurotoxische Syndrome auslösen könne (wie Depression, Muskelschwäche, Alpträume, Gedächtnisschwund). Als ionisierte Alkylamine deutet ihre Struktur auch darauf, dass sie als Pulver eingesetzt werden könnten, während die anderen Nervenkampfstoffe als Flüssigkeiten oder Aerosol eingesetzt wurden. Der Pharmakologe Palmer Taylor von der UCSD wies darauf hin, dass die Herstellung für sein Universitätslabor zu gefährlich wäre, aber an neuen Oximen als Gegenmittel gearbeitet werden könne, wenn die Substanz von Militärlaboren zur Verfügung gestellt würde.

Eine binäre Variante von A-232, die lagerstabil ist, wurde unter dem Namen Nowitschok-5 entwickelt. Sie besteht nach Tucker aus einer Stickstoff-Komponenteund einer Phosphor-Komponente[2] Nach Aussage eines der Entwickler des Kampfstoffs Wladimir Ugljow sind die Grundsubstanzen für die Herstellung allgemein kommerziell erhältlich und die Synthese – von der extremen Gefährlichkeit der synthetisierten Substanzen für das eigene Leben abgesehen – kein großes Problem.[25] A-234 ist nach Vasarhelyi und Földi eine Variante von A-232, bei der eine Methyl- durch eine Ethylgruppe ersetzt wurde, und ihre jeweiligen Binärvarianten können aus einem organischen Phosphat und Acetonitril synthetisiert werden.[26]

möglicher Syntheseweg für A-232 aus den Binäkomponenten nach Kuca[27]

Die von der OPCW identifizierte Strukturformel für A-234, das beim Skripal-Attentat zur Anwendung kam, entspricht der Formel von Mirsajanow. Diese wird in einer Studie zur experimentellen Bestimmung der Werte von Hydrolyse und enzymatischem Abbau von A-234 von Wissenschaftlern des Aberdeen Proving Ground, der Forschungs- und Entwicklungseinrichtung der United States Army, 2020 benutzt.[28] Die Hydrolyseraten von A-234 waren dabei am niedrigsten, gefolgt von den Nowitschok-Varianten A-232 und A- 230, allesamt niedriger als die Nervenkampfstoffe der V-Reihe und der G-Reihe.[29] Auch eine theoretische Studie zu den Hydrolysemechanismen von 2020 benutzt die Strukturformel von Mirsajanow, wobei sie sich auch auf die OPCW beruft.[30]

A-234 nach Mirsajanow ist seit einer Vertragsstaatenkonferenz November 2019 explizit in die OPCW-Liste chemischer Kampfstoffe[31] aufgenommen (wirksam ab Juni 2020) als Ethyl-[(1E)-1-(diethylamino)ethyliden]phosphoramidofluoridat,[32] ebenso wie A-232 (Methyl(1-(diethylamino)ethyliden)phosphoramidofluoridat),[33] beides als Beispiele für O-Alkyl-N-Fluorophosophorylamidine. Das geschah auf einen gemeinsamen Vorschlag von Kanada, den USA und der Niederlande.).[34] Russland machte einen modifizierten Vorschlag, in dem die Nowitschok-Gruppe enger gefasst werden sollte und zusätzlich zwei hochtoxische Carbamate aufgenommen werden sollten (CAS-Nummern 77104-62-2 und 77104-00-8), die in den USA in den 1960er- und 1970er-Jahren entwickelt wurden und reversible Acetylcholin-Inhibitoren sind, aber nie in das Waffenarsenal der USA gelangten. Man einigte sich auf einen Kompromiss, bei dem die Nowitschok-Vertreter mit Amidin-Seitenkette sehr weit gefasst wurden: die drei Alkylketten an den Enden des Amidins sowie die Alkylkette, die direkt am Phosphor sitzt bzw. mit diesem über ein Sauerstoffatom verbunden ist können bis 10 C-Atome lang sein und auch Cycloalkyle umfassen. Zusätzlich wurde Nowitschok-5 (A 242, Struktur nach Mirsajanow, Abbildung 3) aufgenommen und die beiden Carbamate.


Analytik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wirkung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Nervengift zählt zur Gruppe der Acetylcholinesterase-Hemmer.[35] Acetylcholinesterase (Abkürzung AChE) ist ein Enzym, welches normalerweise den Neurotransmitter Acetylcholin in den Synapsen abbaut. Das Nervengift blockiert das aktive Zentrum der Acetylcholinesterase durch Phosphorylierung des für die Funktion wesentlichen Serins im aktiven Zentrum – ein Vorgang, der irreversibel ist, da anschließend eine Alterung des Serins stattfindet.

Zunächst findet in der katalytischen Triade Ser-His-Glu eine Aktivierung der Hydroxygruppe des Serins (Ser200) durch den Imidazolrest des Histidin (His440) statt. Die Hydroxygruppe greift am Phosphoratom des Nowitschoks an und substituiert Fluoratom, welches das Molekül als Fluoridion verlässt. Durch diese Phosphorylierung ist das Enzym inaktiviert und kann auch durch Oxime, wie Pralidoxim oder Obidoxim nur schlecht reaktiviert werden.[27]

Inaktivierung des aktiven Zentrums der AChE durch ein Nowitschok-Derivat

Die Alterung des Enzyms setzt durch einen Bindungsbruch am Phosphorsäureester ein. Je nach Struktur des Nowitschoks kommt es zu einer Dealkylierung (Struktur nach Mirsajanow)[36] oder zu einer Hydrolyse der N-O-Bindung des Oximesters (Struktur nach Hoenig).[27] In beiden Fällen entsteht ein negativ geladenes Phosphat, welches durch Wasserstoffbrückenbindungen zum Histidin zusätzlich stabilisiert wird. Die Halbwertszeit dieses Alterungsprozesses liegt, ähnlich wie bei Soman, zwischen 2 und 4 Minuten.[27]

Alterung des aktiven Zentrum und Stabilisierung

Die bei anderen Nervenkampfstoffen als Gegengift wirksamen Oxime, die in einem sehr frühen Stadium durch Komplexbildung die Lösung der Bindung des Nervenkampfstoffs bewirken, sind bei Nowitschok allenfalls sehr begrenzt wirksam. Atropin sowie andere Anticholinergika können der Acetylcholinflutung entgegenwirken, da sie die Acetylcholin-Rezeptoren des parasympathischen Systems blockieren.

Durch die Inaktivierung der Acetylcholinesterase wird der Abbau des Acetylcholins verhindert, die Acetylcholinflutung führt zu einer Dauererregung mit Kontraktion aller Muskeln und anschließenden Lähmungen. Die Opfer sterben durch die Hemmung der Atmung und des Herzmuskels. Typische Symptome sind Schaum vor dem Mund, starke Sekretbildung, Erbrechen und allgemeiner Verlust aller Muskelfunktionen.

Toxizität[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Forschung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im Jahr 2016 synthetisierten iranische Wissenschaftler fünf erklärte Nowitschok-Derivate, hierbei handelt es sich um O-Alkyl/Aryl-N-[Bis(dimethylamino)methyliden]-P-methanphosphonsäureamide. Ziel war es, für die Kontrolle und Abwehr von Nervenkampfstoffen chromatografisch-massenspektrometrische Daten zu gewinnen, um die Auswertung von Analysespektren, auch über die konkret untersuchten Derivate hinaus, zu verbessern. Die Ergebnisse wurden der Datenbank der OPCW zur Verfügung gestellt.[37] Dabei wurden diese Stoffe im Mikromaßstab synthetisiert, d. h., es wurden nur minimale Mengen hergestellt, um das Handhabungsrisiko gering zu halten.[38]

von Hosseini untersuchte Substanzreihe von Nowitschok-Analoga

Nowitschok-Analoga in der zivilen Forschung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Sonstiges[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Vil Mirzayanov: Dismantling the Soviet/Russian Chemical Weapons Complex: An Insider's View. In Chemical Weapons Disarmament in Russia: Problems and Prospects, Henry L. Stimson Center, 1995, S. 24. Eine Tabellenübersicht ist auf S. 25.
  2. a b Referenzfehler: Ungültiges <ref>-Tag; kein Text angegeben für Einzelnachweis mit dem Namen Tucker_253.
  3. Tucker: War of Nerves. 2006, S. 234.
  4. Tucker: War of Nerves. 2006, S. 232.
  5. a b Referenzfehler: Ungültiges <ref>-Tag; kein Text angegeben für Einzelnachweis mit dem Namen Tucker_233.
  6. Tucker: War of Nerves. 2006, S. 233. Nach der Formel von Mirsajanow hat A-232 (und A-234) auch keine direkte Verbindung Phosphor-Kohlenstoff, im Gegensatz zu den bekannten Nervenkampfstoffen Tabun, Sarin, Soman, was somit für Waffenkontrolleure ein wichtiges Kennzeichen zur Identifizierung war.
  7. Referenzfehler: Ungültiges <ref>-Tag; kein Text angegeben für Einzelnachweis mit dem Namen Tucker_253_254.
  8. Ivo Mijnssen: Die Sowjetunion entwickelte einst das Nervengift Nowitschok. Dessen Spur bleibt bis heute mysteriös. NZZ.ch vom 13. März 2018, abgerufen am 15. März 2018.
  9. Robin Black: Chemical Warfare Toxicology. 2016, CHAPTER 1:Development, Historical Use and Properties of Chemical Warfare Agents, S. 1–28, doi:10.1039/9781782622413-00001.
  10. Nerve agent attack on spy used ‘Novichok’ poison. In: acs.org. cen.acs.org, abgerufen am 8. April 2022.
  11. Emil Halámek, Zbyněk Kobliha: Potential Chemical Warfare Agents. In: Chemické listy. Band 105, Nr. 5, 15. Juni 2011, S. 323–333 (chemicke-listy.cz).
  12. Jiri Bajgar, Jiri Kassa, Josef Fusek, Kamil Kuca, Daniel Jun: Handbook of Toxicology of Chemical Warfare Agents. Academic Press, San Diego 2009, ISBN 978-0-12-374484-5, CHAPTER 24 - Other Toxic Chemicals as Potential Chemical Warfare Agents, S. 333, doi:10.1016/b978-0-12-374484-5.00024-9.
  13. Tucker: War of Nerves. 2006, S. 380.
  14. Steven L. Hoenig: Compendium of Chemical Warfare Agents. Springer, New York 2006, S. 77–128, doi:10.1007/978-0-387-69260-9.
  15. Steven L. Hoenig: Compendium of Chemical Warfare Agents. Springer, New York 2006, S. 79, doi:10.1007/978-0-387-69260-9.have recently been cited in the literature with reference to their chemical structure but with no analytical data.
  16. D. Hank Ellison: Handbook of Chemical and Biological Warfare Agents. 2. Auflage. CRC Press, Boca Raton 2007, ISBN 978-0-8493-1434-6, S. 37–42.
  17. Beeta Balali-Mood: Basic and Clinical Toxicology of Organophosphorus Compounds. Springer, London 2014, ISBN 978-1-4471-5625-3, Chemistry and Classification of OP Compounds, S. 1–23, doi:10.1007/978-1-4471-5625-3_1.
  18. W. E. White: Effects of Chemical Reactivity on the Toxicity of Phosphorus Fluoridates. In: SAR and QSAR in Environmental Research. Band 10, Nr. 2-3. Taylor & Francis, 1999, ISSN 1062-936X, S. 207–213, doi:10.1080/10629369908039176, PMID 10491850. Die Strukturen von Hoenig entsprechen Nr. 12 in Figur 2 auf S. 210, die Toxizitäts-Reaktivitäts-Beziehung wird in Figur 3, S. 211 dargestellt. Die relative Energie für die Zwischenstufen sind zu hoch und sie reagieren deshalb träger. G-Kampfstoffe wie Sarin und Soman liegen dagegen nahe dem Optimum.
  19. Explizit führt White die Substanz (bei ihm Nr. 12) auf, die hier von Ellison mit der CAS-Nr. 17642-31-8 angeführt wird. Sie bilden auch das Grundgerüst für Hoenigs Vorschläge für A-230, -232, -234, wobei dort noch ein endständiges Chlor durch Fluor ersetzt ist. Die Toxizitätswerte ergaben sich aus den umfangreichen ERDEC Daten von Untersuchungen zahlreicher Substanzen an einem speziellen Labormausstamm im Chemiewaffenforschungszentrum Edgewood besonders in den 1950er- und 1960er-Jahren
  20. D. Hank Ellison: Handbook of Chemical and Biological Warfare Agents. 2. Auflage. CRC Press, Boca Raton 2007, ISBN 978-0-8493-1434-6, S. 101 ff.
  21. Lars Carlsen: After Salisbury Nerve Agents Revisited. In: Molecular Informatics. Band 38, Nr. 8-9. Wiley Online Library, 2019, ISSN 1868-1743, S. 1800106, doi:10.1002/minf.201800106.
  22. Karel Knip: ‘Onbekend’ zenuwgas novitsjok was allang bekend. In: Raam op Rusland. 20. März 2018 (niederländisch), NRC Handelsblad.
  23. Karel Knip: „Unknown“ newcomer Novichok was long known. In: Handelsblad. (Online-Ausgabe), 21. März 2018.
  24. Richard Stone: U.K. attack shines spotlight on deadly nerve agent developed by Soviet scientists. In: Science. 2018, ISSN 0036-8075, doi:10.1126/science.aat6324.
  25. Tödliche Tropfen im Telefonhörer. In: Spiegel Online. 25. März 2018.
  26. György Vasarhelyi, Laszlo Földi: History of Russia's Chemical Weapons. AARMS, Band 6, 2007, S. 135–146, hier S. 141. AARMS = Applied Research in Military Science, später umbenannt in Academic and Applied Research in Public Management Science, National University of Public Service (NUPS), Budapest. Sie beziehen sich auf L. HALÁSZ, K. NAGY: Chemistry of toxic substances, Miklós Zrínyi National Defence University 2001, S. 47–59 (ungarisch).
  27. a b c d Eugenie Nepovimova, Kamil Kuca: Chemical warfare agent NOVICHOK - mini-review of available data. In: Food and Chemical Toxicology. Band 121, 2018, ISSN 0278-6915, S. 343–350, doi:10.1016/j.fct.2018.09.015.
  28. Steven Harvey, Leslie MacMahon, Frederic J. Berg: Hydrolysis and enzymatic degradation of Novichok nerve agents. In: Heliyon. Band 6, 2020, S. e03153.
  29. Gemessen wurde die Hydrolyse in M pro Minute bei 25 Grad Celsius in 50mM bis-tris-Propan Buffer, pH 7,2. A 234 0,0032, A 232 0,061, A 230 0,17, VX 0,246, VR 0,237, Sarin (GB) 6,68
  30. Y. Imrit, P. Ramasami et al.: A theoretical study of the hydrolysis mechanism of A-234; the suspected novichok agent in the Skripal attack. In: RSC Adv. Band 47, 10, 2020, S. 27884.
  31. OPCW, Conference of the State Parties, Twenty-fourth session 25-29 November 2019, Changes to Schedule 1 of the Annex on Chemicals to the Chemical Weapons Convention, 27. November 2019, c-24/Dec.5, (pdf)
  32. Chemspider, ID 64808787
  33. Chemspider, ID 64808786
  34. Marc-Michael Blum: Chemikalienregulierung – Ein unbekanntes Nervengift. Nachrichten aus der Chemie, Band 68, September 2020, S. 45–48.
  35. Steven L. Hoenig: Compendium of Chemical Warfare Agents. Springer, New York 2007, S. 78, doi:10.1007/978-0-387-69260-9.
  36. Jan Korabecny, Ondrej Soukup, Rafael Dolezal, Katarina Spilovska, Eugenie Nepovimova, Martin Andrs, Thuy Duong Nguyen, Daniel Jun, Kamil Musilek, Marta Kucerova-Chlupacova, Kamil Kuca: From Pyridinium-based to Centrally Active Acetylcholinesterase Reactivators. In: Mini-Reviews in Medicinal Chemistry. Band 14, Nr. 3, S. 215–221, doi:10.2174/1389557514666140219103138.
  37. S. E. Hosseini, H. Saeidian, A. Amozadeh, M. T. Naseri, M. Babri: Fragmentation pathways and structural characterization of organophosphorus compounds related to the Chemical Weapons Convention by electron ionization and electrospray ionization tandem mass spectrometry. In: Rapid Communications in Mass Spectrometry. Band 30, Nr. 24, 5. Oktober 2016, doi:10.1002/rcm.7757.
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