Capsula eburnea

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Vorwort der Capsula eburnea. Deutsch. Beginn des 14. Jh.[1][2]

Die Capsula eburnea („Elfenbein-Büchse“), auch Secreta Hippocratis genannt, ist ein spätantiker Kurztraktat aus dem 4. oder 5. Jahrhundert. Er dient zur geheimen Todesprognostik anhand von Hauteffluoreszenzen. Der Name „Capsula eburnea“ leitet sich von einem Vorwort ab, das diesem Kurztraktat meist beigegeben ist. In diesem Vorwort wird behauptet, im Grab des Hippokrates oder des Demokrit habe ein römischer Kaiser eine Elfenbein-Büchse gefunden, in der dieser Kurztraktat zur geheimen Todesprognostik verwahrt war.

Inhalt[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Dem Traktat vorangestellt ist die Auffindungslegende, in der die Capsula eburnea entweder Hippokrates oder Demokrit zugeschrieben wird. Es folgen 21 bis 24 Kapitel, anatomisch „von Kopf bis Fuß“ nach dem regionalen Auftreten von Hautausschlägen gereiht. Unter Einbezug weiterer Symptome wird abschließend eine Todesprognostik aufgestellt. Als Beispiel das erste Kapitel in der Übersetzung von Manfred Ullmann:

„Wenn auf der Wange des Kranken eine Geschwulst ist, die nicht schmerzt, auch wenn man sie berührt,
und wenn seine linke Hand auf seiner Brust liegt,
so wisse, dass er innerhalb von 23 Tagen nach Beginn der Krankheit sterben wird,
insbesondere, wenn er am Anfang der Krankheit durch die Nase schnauft.“[3]

Quelle und Überlieferung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Als Quelle der Capsula eburnea von „Pseudo-Hippokrates“[4] wird ein griechischer Text vermutet. Dieser griechische Text war zunächst im byzantinischen Raum verbreitet.

Die westeuropäische Überlieferung des Traktats ist durch zwei Übersetzungsstränge geprägt:

  1. Bereits im 4. oder 5. Jahrhundert wurde der griechische Text ins Lateinische übersetzt.
  2. Im 12. Jahrhundert wurde in der Übersetzerschule von Toledo durch Gerhard von Cremona eine jüngere lateinische Version nach arabischen Vorlagen erstellt.
Diese jüngere lateinische Übersetzung setzte sich seit dem Hochmittelalter durch und wurde Grundlage für landessprachige Bearbeitungen.[5]

In arabischer Sprache war die „Capsula eburnea“ weit verbreitet.[6]

  • Rhazes hat diese Schrift in ein an den Samanidenherrscher abū Şālih al-Manşūr ibn Ishāq (Almansur) gerichtetes Buch, den Liber Rasis ad Almansorem aufgenommen.[7] Auch in den Inkunabeln des Liber Rasis ad Almasorem fehlt die „Capsula eburnea“ nicht[8]:
    • Razi. Liber Almansoris. Pachel und Scinzenzeler, Mailand 14. Februar 1481 (Klebs 826.1)
    • Razi. Liber Rasis ad almansorem. Locatellus, Venedig 7. Oktober 1497, Blatt 153r.[9]
    • Razi. Liber Almansoris. Hamman, Venedig 19. Februar 1500 (Klebs 826.3)
  • Avicenna hat über die „Capsula eburnea“ ein Rağazgedicht verfasst.[10]
  • Maimonides hat die „Capsula eburnea“ in seine Schrift „Aphorismi“ aufgenommen. Auch in den Inkunabeln diese Werkes ist sie enthalten.[11][12]
    • Maimonides: Aphorismi. F. Benedictis für B. Hectoris, Bologna 29. Mai 1489 (Klebs 644.1)
    • Maimonides: Aphorismi. Hamman, Venedig 10. Januar 1500, Blatt 41v[13]

Die hebräische Übersetzung der „Capsula eburnea“ fußt auf der in griechischer Sprache überlieferten Urfassung.[14]

In zwei Manuskripten aus dem deutschen Sprachraum konnte die isolierte Auffindungslegende der „Capsula eburnea“ nachgewiesen werden. Hier diente die Auffindungslegende als Vorsatz zur Anpreisung eines anderen Textes medizinischen Inhalts:

In dem um 1280 entstandenen Arzneibuch Ortolfs von Baierland war eine Bearbeitung der „Capsula eburnea“ enthalten, die nach der im 12. Jahrhundert durch Gerhard von Cremona nach arabischen Quellen erstellten lateinischen Übersetzung verfasst war.[17][18]

  • Beispiel für die „Capsula eburnea“ in Manuskripten des Ortolfschen Arzneibuchs:
  • Beispiele für die „Capsula eburnea“ in Inkunabeln des Ortolfschen Arzneibuchs:
    • Günther Zainer, Augsburg ca. 1477/78, Blatt 17: Von des todes zeychen an den siechen menschen[20]
    • Anton Koberger, Nürnberg 17.03.14, Blatt 15: Von des todes zaichen an den siechen menschen[21]
    • Anton Sorg, Augsburg 11.08.1479, Blatt 17: Von des todes zeichen an den siechen menschen[22]
    • Anton Sorg, Augsburg 18.03.1482, Blatt 12: Von des todes zeichen an den siechen menschen[23]
    • Bartholomäus Ghotan, Lübeck 1484, Blatt 27: Van den tekenen des dodes an den mynschen[24]
    • Anton Sorg, Augsburg 09.06.1488, Blatt 33: Von des tods zaichen am siechen menschen[25]
    • Schobsser, Augsburg 1490

Eine althochdeutsche Übersetzung veröffentlichte 1916 Friedrich Wilhelm.[26]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Johann Christian Gottlieb Ackermann: Hippokrates Buch aus der Elfenbeinernen Kapsel. Divi Hippocratis de capsula eburnea aphorismi. In: Philipp Ludwig Wittwer (Hrsg.): Archiv für Geschichte der Arzneykunde in ihrem ganzen Umfange. Nürnberg 1790, S. 48–55 (Digitalisat).
  • Karl Sudhoff: Die pseudohippokratische Krankheitsprognostik nach dem Auftreten von Hautausschlägen, „Secreta Hippocratis“ oder „Capsula eburnea“ benannt. In: Archiv für Geschichte der Medizin. Band 9, 1915/1916, S. 79–116. Mit Textausgabe.
  • Henry E. Sigerist: Die Prognostica Democriti im Cod. Hunterian. T. 4 13 S. IX/X. In: Archiv für Geschichte der Medizin. Band 13, 1921, S. 157–159.
  • Jesaja Muschel: Die pseudohippokratische Todesprognostik und die Capsula eburnea in hebräischer Überlieferung. In: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin. Band 25, 1932, Heft 1, S. 43–60.
  • Manfred Ullmann: Die Medizin im Islam. In: Bertold Spuler et al. (Hrsg.): Handbuch der Orientalistik, Erste Abteilung, Ergänzungsband VI, Erster Abschnitt. Brill, Leiden 1970, S. 33–34, 155 und 344.
  • Rosa Kuhne Brabant: The arabic prototype of the “Capsula eburnea”. In: Quaderni di studi arabi. Band 5/6, 1987–1988, S. 431–441.
  • Frederick S. Paxton: „Signa Mortifera“. Death and Prognostication in Early Medieval Monastic Medicine. In: Bulletin of the History of Medicine. Band 67, Nr. 4, (Winter) 1993, S. 631–650, hier: S. 639 ff.
  • Gundolf Keil: Capsula eburnea. In: Lexikon des Mittelalters. Band 2. 1999, Sp. 1489.
  • Gundolf Keil: Capsula eburnea. In: Gundolf Keil, Kurt Ruh et al. (Hrsg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Auflage. De Gruyter, Berlin / New York, Band 11 (2004), Sp. 310–314.
  • Valeria Di Clemente: Capsula eburnea. In: Testi medico-farmaceutici tedeschi nell’XI e XII secolo. Edizioni dell’Orso, Alessandria 2009, ISBN 978-88-6274-177-4, S. 81–91.
  • Valeria Di Clemente: La ricezione della Capsula eburnea in bassotedesco medio. In: Filologia germanica. 6, 2014, S. 67–89.
  • Valeria Di Clemente: La ricezione della Capsula eburnea nell’Inghilterra medievale. I Secreta Ypocratis del ms. Londra, British Library, Add. 34111, ff. 231r–233v. In: Euno Edizioni, Leonforte (EN). 2021, ISBN 978-88-6859-208-0, S. 1–80.
  • Sonia Colafrancesco: Come le ginocchia divennero guance. Il caso del secondo pronostico della Capsula eburnea inglese medievale (Wie aus den Knien Wangen wurden. Der Fall der zweiten Vorhersage in der mittelalterlichen englischen Capsula eburnea). In: Medioevo Europeo. Florenz, Band 5, Nr. 1, 2021, S. 51–64.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Handschriftencensus. Capsula eburnea, dt.
  2. Basel Universitätsbibliothek, Cod. B XI 8, Bl. 136r–v
  3. Manfred Ullmann: Die Medizin im Islam. In: Bertold Spuler et al. (Hrsg.): Handbuch der Orientalistik, Erste Abteilung, Ergänzungsband VI, Erster Abschnitt, Brill, Leiden 1970, S. 34
  4. Vgl. auch Gundolf Keil: Ipokras. Personalautoritative Legitimation in der mittelalterlichen Medizin. In: Peter Wunderli (Hrsg.): Herkunft und Ursprung. Historische und mythische Formen der Legitimation. (Akten des Gerda-Henkel-Kolloquiums, veranstaltet vom Forschungsinstitut für Mittelalter und Renaissance der [...] Universität Düsseldorf, 13. bis 15. Oktober 1991). Jan Thorbecke, Sigmaringen 1994, S. 157–177.
  5. Gundolf Keil: Capsula eburnea. In: Lexikon des Mittelalters. Band 2 (1999), Sp. 1489
  6. Rosa Kuhne Brabant: The arabic prototype of the “Capsula eburnea.” In: Quaderni di studi arabi. 5/6 (1987–1988), S. 431–441
  7. Manfred Ullmann: Die Medizin im Islam. In: Bertold Spuler et al. (Hrsg.): Handbuch der Orientalistik, Erste Abteilung, Ergänzungsband VI, Erster Abschnitt, Brill, Leiden 1970, S. 132
  8. Arnold C. Klebs: Incunabula scientifica et medica. The Saint Catherine Press, 1938. Auch in: Osiris. Band 4, 1938, S. 270; Neudruck Hildesheim 1963 (Digitalisat)
  9. Locatellus, Venedig 7. Oktober 1497 (Klebs 826.2). Darin Blatt 153r: Liber pronosticoris hypocratis dictus capsula eburnea (Digitalisat)
  10. Manfred Ullmann: Die Medizin im Islam. In: Bertold Spuler et al. (Hrsg.): Handbuch der Orientalistik, Erste Abteilung, Ergänzungsband VI, Erster Abschnitt, Brill, Leiden 1970, S. 33–34, 155, 344
  11. Manfred Ullmann: Die Medizin im Islam. In: Bertold Spuler et al. (Hrsg.): Handbuch der Orientalistik, Erste Abteilung, Ergänzungsband VI, Erster Abschnitt, Brill, Leiden 1970, S. 167
  12. Arnold C. Klebs: Incunabula scientifica et medica. The Saint Catherine Press, 1938. Auch in: Osiris. Band 4, 1938, S. 212–213; Neudruck Hildesheim 1963 (Digitalisat)
  13. Hamman, Venedig 10. Januar 1500, Blatt 41v: Liber prognosticoris hypocratis dictus capsula eburnea. (Klebs 644.2) (Digitalisat)
  14. Jesaja Muschel: Die pseudohippokratische Todesprognostik und die „Capsula eburnea“ in hebräischer Überlieferung. In: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin 25 (1932) H. 1, S. 43–60
  15. Handschriftencensus. Bamberg Msc. Hist. 146
  16. „Basler Liederhandschrift“, Universitätsbibliothek Basel, B XI 8, Blatt 136r–v
  17. Gundolf Keil: Capsula eburnea. In: Lexikon des Mittelalters. Band 2 (1999), Sp. 1489
  18. Im Handschriftencensus verzeichnete Handschriften mit dem Ortolfschen Arzneibuch oder mit Teilen dieses Werkes (Digitalisat)
  19. Benediktinerstift Admont Cod. 329, Anfang 15. Jahrhundert, Blatt 56ra–56vb: Von dem zaichen des todeß (Digitalisat)
  20. Günther Zainer, Augsburg ca. 1477/78, Blatt 17: Von des todes zeychen an den siechen menschen (Digitalisat)
  21. Anton Koberger, Nürnberg 17.03.14, Blatt 15: Von des todes zaichen an den siechen menschen (Digitalisat)
  22. Anton Sorg, Augsburg 11.08.1479, Blatt 17: Von des todes zeichen an den siechen menschen (Digitalisat)
  23. Anton Sorg, Augsburg 18.03.1482, Blatt 12: Von des todes zeichen an den siechen menschen (Digitalisat)
  24. Bartholomaeus Ghotan, Lübeck 1484, Blatt 27: Van den tekenen des dodes an den mynschen (Digitalisat)
  25. Anton Sorg, Augsburg 09.06.1488, Blatt 33: Von des tods zaichen am siechen menschen (Digitalisat)
  26. Friedrich Wilhelm (Hrsg.): Denkmäler deutscher Prosa des XI. und XII. Jahrhunderts. 2 Bände (Texte und Kommentare), Callway, München 1914–1916/18 (= Münchener Texte. Band 8), Abteilung B, S. 244–245.