Mladen Naletilić

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Mladen Naletilić vor dem Internationalen Gerichtshof für das ehemalige Jugoslawien

Mladen Naletilić (* 1. Dezember 1946 in Široki Brijeg; † 17. Dezember 2021 in Mostar), genannt Tuta, war ein Warlord im Bosnienkrieg und mutmaßlicher führender Bandenkrimineller. Er gründete und kommandierte das paramilitärische Kažnjenička bojna (Sträflingsbataillon) des Kroatischen Verteidigungsrats (HVO). Naletilić wurde vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) als Kriegsverbrecher wegen „ethnischer Säuberung“ an Bosniaken zu einer 20-jährigen Haftstrafe verurteilt, die er zu zwei Dritteln verbüßte.

Leben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Jugend und Emigration[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Naletilić wurde am 1. Dezember 1946 in Široki Brijeg als Sohn von Mate und Slavka Naletilić geboren, welche die weiteren gemeinsamen Söhne Dobroslav und Miro sowie die Töchter Anka, Danica und Diana hatten. Die weiterführende Schule soll er gemeinsam mit dem späteren kroatischen Außenminister Gojko Šušak (1945–1998) besucht haben, mit dem er bekannt gewesen sein soll.[1] Naletilić emigrierte um das Jahr 1968 als Gastarbeiter nach Westdeutschland. Dort soll er der extremistischen Emigrantenvereinigung Bund der vereinigten Kroaten Deutschlands e. V. angehört haben.

Anfang der 1970er-Jahre soll Naletilić eine Beziehung mit der späteren Grünen-Politikerin und Stasi-Agentin Brigitte Heinrich (1941–1987) gehabt und mit ihr in Mainz gelebt haben.[2][3] Bis Ende der 1980er-Jahre war Naletilić in Singen als Spielbank- und Nachtclubbetreiber bekannt.[4] Er arbeitete mit dem deutschen Bundesnachrichtendienst und dem bulgarischen Komitee für Staatssicherheit zusammen.[5] Nach Dokumenten die der britischen Tageszeitung The Guardian und dem bosnisch-herzegowinischen Investigativmagazins Slobodna Bosna vorlagen, arbeitete Naletilić als Agent des jugoslawischen Geheimdienstes „UDBA“, mit dem Auftrag über „die Ustascha-Emigranten in Deutschland und überall“ zu berichten.[6][7]

Kroatien- und Bosnienkrieg[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ärmelabzeichen des Kažnjenička bojna (um 1993)

Während des Zerfalls Jugoslawiens Anfang der 1990er-Jahre nach Kroatien gekommen, gründete Naletilić dort das Kažnjenička bojna (Sträflingsbataillon). Während des Waffenembargos sicherte sich Naletilić durch die Vermittlung von Waffengeschäften die Protektion des kroatischen Präsidenten Franjo Tuđman und vor allem von Außenminister Šušak, unter dessen persönlichen Befehl das Kažnjenička bojna im Kroatienkrieg handelte und gegen „schlechte“ Kroaten eingesetzt wurde.[5]

Nach Ausbruch des Bosnienkrieges verlegte Naletilić das Kažnjenička bojna nach Široki Brijeg und betrieb 1993 über die Fronten hinweg Schmuggelgeschäfte. So verkaufte er Treibstoff an serbisches Militär und später ließ er harte Drogen aus Italien über Mostar nach Zagreb, Sarajevo und Skopje verkaufen.[8]

Mitglieder des Kažnjenička bojna sollen am 9. August 1992 in Kruševo bei Mostar die Liquidierung des HOS-Führers Blaž Kraljević und acht seiner Mitstreiter durchgeführt haben.[9] Nach der offiziellen Version schossen HOS-Mitglieder auf den Kontrollpunkt des Kroatischen Verteidigungsrates, woraufhin Kraljević und sein Gefolge getötet wurden. Die genauen Tatumstände wurden nie geklärt.

Das Sträflingsbataillon beteiligte sich am kroatisch-bosniakischen Krieg und kämpfte unter anderem in der Nähe von Jablanica und Mostar. Während der Kämpfe um Mostar propagierte Naletilić seinen Ruf als Volksheld und genoss hohes Ansehen als „lebende Legende“.[10] So wurden Plakate mit der Aufschrift „Tuta – Naša pobjeda“ (Tuta – Unser Sieg!) verbreitet und das Lied Čuvaj Tuta Mostar (Tuta behüte Mostar!) veröffentlicht. Naletilić geriet in Konflikt mit hochrangigen HVO-Beamten, so im November 1993 mit dem HVO-Befehlshaber General Slobodan Praljak (1945–2017), dem er bei einem Streit eine Pistole an die Stirn hielt[11]. Aufgrund der von ihm und seiner Einheit ausgeübten Willkür kam es in der Herzegowina beinahe zu innerkroatischen Konflikten. Aufgrund seiner halb- oder illegalen Aktivitäten wurde Naletilić auch für die Behörden in Kroatien zu einem zunehmenden Problem. Der damalige Chef des kroatischen Geheimdienstes HIS Miroslav Tuđman (1946–2021) charakterisierte ihn 1995 in einem offiziellen Brief an den damaligen kroatischen Präsidenten, seinen Vater Franjo Tuđman (1922–1999), als Mitglied der kriminellen Unterwelt, Bordellbetreiber im Ausland und vorgetäuschten politischen Emigranten, der nichts mit den internationalen Terroristen der ETA oder der Baader-Meinhof-Gruppe zu tun habe, mit denen er oft prahlen würde.[12]

Im Dezember 1993 stürmte eine Gruppe von Mitgliedern des Kažnjenička bojna das Gefängnis von Ljubuški, entwaffnete die Wachen und entführte den HVO-Militärpolizisten und ehemaligen Angehörigen des I. Dobrovoljačka pukovnija „Kralj Tomislav“ Robert Nosić (* 26. Januar 1970 in Ljubuški[13]), der zuvor bei einem Streit ein Mitglied der Einheit verwundet hatte. Nosić gilt seitdem als vermisst.

Nachkriegszeit und Haft[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nachdem Anklage gegen Naletilić wegen der Entführung von Robert Nosić erhoben worden war, wurde er im Februar 1997 durch Angehörige der Anti-Terror-Einheit Lučko in Kroatien festgenommen und für zwei Jahre im Gefängnis von Remetinec inhaftiert.

Im Jahr 1998 erhob der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) Anklage gegen Naletilić, der daraufhin im März 2000 von den kroatischen Behörden nach Den Haag ausgeliefert wurde. Während der Haft spielte er regelmäßig Volleyball, war in Kontakt mit Slobodan Milosević (1941–2006) und spielte laut Medienberichten regelmäßig Schach mit Vojislav Šešelj (* 1954), mit dem er Freundschaft geschlossen hatte.[14] Šešelj berichtete in einem Interview nach Tutas Tod:

„Milošević je došao u Haag nepune tri godine prije mene i on se već sprijateljio s Tutom. Jednom kaže kako zna da on pola stvari “veze i izmišlja” , ali ga je lijepo slušati. Zaista je bio zabavan i duhovit. I onda kad sa mnom uđe u duel onda se svi oko nas valjaju od smijeha. Mi smo bili duhovna hrana za ove ostale paćenike tamo koji bi često padali u letargiju i depresiju. Tuta je bio duhoviti i mi u tim našim šalama nismo imali granica. […] Jednu stvar da ti kažem: kad je Milošević umro, on je oba svoja sina spremio da mu odu na pogreb u Požarevac. Nije o tome pisao, ali je to učinio.“

„Milosević kam weniger als drei Jahre vor mir nach Den Haag und hatte sich bereits mit Tuta angefreundet. Er sagte einmal, er wisse, dass er die Hälfte der Dinge „verbinde und erfinde“, aber es ist schön, ihm zuzuhören. Er war wirklich lustig und witzig. Und als er sich dann mit mir duellierte, lachten alle um uns herum. Wir waren die geistige Nahrung für diese anderen Leidenden dort, die oft in Lethargie und Depression verfielen. Tuta war lustig und wir kannten keine Grenzen in unseren Witzen. […] Eines muss ich Ihnen sagen: Als Milosević starb, bereitete er seine beiden Söhne darauf vor, zu dessen Beerdigung in Požarevac zu gehen. Er hat nicht darüber geschrieben, aber er hat es getan.“[15]

Wegen „Verfolgung, Folter und Vertreibung der Muslime in Westherzegowina“[9] wurde Naletilić vom ICTY zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Die meiste Zeit seiner Haftstrafe verbrachte er in Den Haag, die letzten Jahre im Rebibbia-Gefängnis in Rom.

Nachdem er zwei Drittel seiner 20-jährigen Haftstrafe verbüßt hatte, wurde Naletilić im Februar 2013 freigelassen. Unmittelbar nach seiner Ankunft in Kroatien wurde er wegen des Mordes an Robert Nosić angeklagt. Die Staatsanwaltschaft ließ alle Anklagepunkte schon bei der ersten Anhörung am 26. April 2013 fallen. Wegen weiterer Anschuldigungen kam es nie zur Anklage.

Nach seiner Freilassung lebte Naletilić bei seinen zwei Söhnen Mate und Udo in der kroatischen Hauptstadt Zagreb.[16] Seine Villa auf dem Cigansko brdo (Zigeunerhügel; eigentlich Ćavarovo brdo) nördlich dem Zentrum von Široki Brijeg, die während und kurz nach dem Krieg als Sammelplatz für Politiker, inoffizielles militärisches Hauptquartier und Hinrichtungsstätte diente, war seit etwa 2000 unbewohnt.[17] Zuletzt lebte Naletilić am Blidinjsko jezero.

Tod[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Naletilić starb am 17. Dezember 2021 im Alter von 75 Jahren im Klinischen Universitätskrankenhaus von Mostar an den Folgen eines schweren Herzinfarkts, den er mehrere Tage zuvor erlitten hatte.[18][19] Die Beerdigung fand am 21. Dezember 2021 in der Familiengruft auf dem Friedhof Sajmište von Široki Brijeg statt.[20] Vojislav Šešelj schickte einen Trauerkranz mit der zweiseitigen Bandaufschrift in serbisch-kyrillisch Последњи поздрав драгом пријатељу / Тути од Војислава Шешеља (Letzte Grüße an meinen lieben Freund / Tuta von Vojislav Šešelj).[21][15]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur und Quellen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Jasna Babić: Zagrebačka mafija (Zagreber Mafia). 3. (?) vermehrte Auflage. Zagreb 2015, ISBN 978-953-323-178-5, Tuta, S. 38–51 (kroatisch).
  • Ivo Žanić: Flag on the Mountain: A Political Anthropology of War in Croatia and Bosnia-Herzegovina: 1990–1995. SAQI, The Bosnian Institute, London 2007, ISBN 978-0-86356-815-2, The Hajduk Outside Institutions, S. 507–509 (kroatisch: Prevarena povijest. Zagreb 1998. Übersetzt von Graham McMaster, Celia Hawkesworth, über Naletilićs Inszenierung als Volksheld).
  • Mate Bašić: Čak ni svog čuvara (...) ne dam ni Interpolu ni u Haag. In: Nacional. 24. November 1995 (nacional.hr – Naletilićs einziges Interview).
  • Online-Biografie. In: vecernji.hr. Večernji list, 1. Dezember 2016, abgerufen am 9. Dezember 2021 (kroatisch).

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Paul Hockenos: Homeland Calling: Exile Patriotism and the Balkan Wars. Cornell University Press, 2018, ISBN 978-1-5017-2565-4, S. 93.
  2. Ivan Toma: Haaški optuženik - hercegovački miljenik [Haager Beschuldigter – herzegowinischer Liebling]. In: Slobodna Dalmacija. 6. August 1999 (slobodnadalmacija.hr [abgerufen am 30. November 2017]).
  3. Mladen Naletilić Tuta. 21. November 2017, abgerufen am 30. November 2017.
  4. Oliver Fiedler (of): 20 Jahre für Mladen Naletilic. In: Wochenblatt. Nr. 19. Singen 10. Mai 2006, S. 19 (wochenblatt.net [PDF]).
  5. a b Jasna Babić: Po Šuškovu naređenju, Tutina bojna ubijala je 'loše' Hrvate (Tutas Battalion tötete „schlechte“ Kroaten auf Šušaks Befehl). In: Nacional. Nr. 342, 5. Juni 2002 (kroatisch, nacional.hr).
  6. The Guardian, 18. März 1996, Seite 8. Zitiert nach Paul Hockenos: Homeland Calling: Exile Patriotism and the Balkan Wars. Cornell University Press, 2018, ISBN 978-1-5017-2565-4, S. 94, Fußnote 18.
  7. Mladen Naletilić: Od UDB-e do Haaga i nazad. In: www.slobodna-bosna.ba. Slobodna Bosna, 19. Februar 2013, abgerufen am 1. Januar 2022 (bosnisch).
  8. Norbert Mappes-Niediek: Balkan-Mafia : Staaten in der Hand des Verbrechens – eine Gefahr für Europa. Ch. Links Verlag, 2003, ISBN 978-3-86153-313-9, S. 48.
  9. a b Željko Ivanković, Dunja Melčić: Der bosniakisch-kroatische „Krieg im Kriege“. In: Dunja Melčić (Hrsg.): Der Jugoslawien-Krieg: Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen. 2. aktualisierte und erweiterte Auflage. VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2007, ISBN 978-3-531-33219-2, S. 426.
  10. Späte Strafe. In: dw.com. Deutsche Welle, 1. April 2003, abgerufen am 9. Dezember 2021.
  11. Zoran Solomun, Jerko Bakotin: Selbstmord im Gericht : Wer war der kroatische Kriegsverbrecher Praljak? In: swr.de. SWR2, 14. November 2018, S. 13, abgerufen am 21. Dezember 2021 (Manuskript des Features).
  12. Robert Bajruši: M. Tuđman u pismu ocu: Tuta je kriminalac i svodnik (M. Tudjman in einem Brief an seinen Vater: Tuta ist ein Verbrecher und ein Zuhälter). In: Nacional. Nr. 347, 10. Juli 2002 (kroatisch, nacional.hr).
  13. Robert Nosić. In: radisici.ba. Ljubuski-online, 27. Dezember 2011, abgerufen am 1. Januar 2022.
  14. BRATSTVO I JEDINSTVO U HAAŠKOM PRITVORU: Tuta i Šešelj najbolji su prijatelji u Scheveningenu (Brüderlichkeit und Einheit in Haager Haft: Tuta und Šešelj beste Freunde in Scheveningen). In: www.nacional.hr. Nacional, 29. Dezember 2020, abgerufen am 1. Januar 2022 (kroatisch).
  15. a b Šešelj otkrio kako i zašto je poslao vijenac na Tutin sprovod. In: www.jabuka.tv. 1. Januar 2022, abgerufen am 3. Januar 2022 (kroatisch, mit Video des Interviews von Milomir Marića mit Šešelj für den serbischen Sender TV Happy).
  16. S. M.: SAZNAJEMO: Mladen Naletilić Tuta živjet će u Zagrebu kod sinova Mate i Ude. In: www.slobodna-bosna.ba. Slobodna Bosna, 19. Februar 2013, abgerufen am 2. Januar 2022 (bosnisch).
  17. Četvorica maloljetnika zatečena u provalnoj krađi u Tutinoj kući. In: www.vecernji.ba. Večernji list, 11. Februar 2011, abgerufen am 1. Januar 2022 (kroatisch).
  18. Mladen Naletilić – Tuta. Abgerufen am 1. Januar 2022 (Sterbeanzeige der Familie).
  19. U Mostaru preminuo Mladen Naletilić Tuta. In: www.vecernji.hr. Večernji list, 17. Dezember 2021, abgerufen am 17. Dezember 2021 (kroatisch).
  20. Sahranjen ratni zločinac Mladen Naletilić Tuta. In: www.oslobodjenje.ba. Oslobođenje, 21. Dezember 2021, abgerufen am 1. Januar 2022 (bosnisch).
  21. Vojislav Šešelj: “Točno je da sam poslao vijenac na pogreb Tuti, a evo i zašto!” In: www.maxportal.hr. 30. Dezember 2021, abgerufen am 31. Dezember 2021 (kroatisch).