Psychasthenie

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Klassifikation nach ICD-10
F48.8 Psychasthenie
ICD-10 online (WHO-Version 2019)
Pierre Janet (1859–1947)

Psychasthenie ist eine psychische Störung, die derzeit als („andere“) neurotische Störung (ICD-10 F48.8; ICD-9-CM 300.89) klassifiziert wird.

Der Terminus wurde von Pierre Janet 1903 durch Abwandlung aus „Neurasthenie[1][2][3] eingeführt. Er gilt heute als veraltete Bezeichnung für geringe körperliche und psychische Belastbarkeit (als neurotische Störung),[4] die trotz ihres ICD-Codes in der Praxis nur noch selten verwendet wird[5] oder gar „in Vergessenheit geraten“ ist.[6][7] Sprachlich ist er aus altgriechisch ψυχή psȳchḗ ‚Hauch, Atem, Leben, Lebenskraft, Seele, Geist, Gemüt‘[8] und ἀσθένεια[9] asthéneia ‚Schwäche, Kraftlosigkeit, Krankheit‘[10] (zu ἀσθενής asthenḗs ‚kraftlos, schwach‘)[11] zusammengesetzt.

Janets Neurosentheorie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In seiner Darstellung der Neurosen stellte Janet die Psychasthenie und die Hysterie – die beiden Begriffe standen zusammen mit der Neurasthenie im Zentrum der Diskussion der Neurosen zum Anfang des 20. Jahrhunderts – als „Hauptneurosen“ einander gegenüber[12] und ordnete Zwangsneurosen (Zwangsvorstellungen), Phobien, Gefühle der Unvollkommenheit, Skrupelhaftigkeit, Schüchternheit sowie Willens-/Antriebsschwäche der Psychasthenie zu.[1][2][3][6][13][7][14]

Weiterentwicklungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Carl Gustav Jung postulierte in seiner Persönlichkeitstheorie einen Zusammenhang zwischen Psychasthenie und Introversion. Im Falle des Ausbildens einer Neurose sollten Introvertierte zur Psychasthenie neigen, während Extravertierte typischerweise die gemäß Janet „entgegengesetzte Hauptneurose“ Hysterie entwickelten.[12][15][16]

Hans Jürgen Eysenck wiederum nahm in seiner Persönlichkeitstheorie, die er mit empirisch-statistischen Untersuchungen (Psychometrie, Faktorenanalyse) untermauerte, Jungs Gedanken auf. Den Ausdruck „Psychasthenie“ ersetzte er dabei durch „Dysthymie“.[16] („Dysthymie“ erlangte in der Folge eine andere, im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders und im ICD anders als die Psychasthenie eingeordnete Bedeutung, nämlich als depressive Störung.)

Über Emil Kraepelins Klassifikation psychiatrischer Störungen anhand möglichst objektiver Merkmale gelangte die Psychasthenie als eigene Skala (Kürzel Pt)[17] in das Minnesota Multiphasic Personality Inventory.[18] Trotz der veralteten zugrundeliegendenen Terminologie handelt es sich dabei um ein aktuell in Diagnostik und Forschung verwendetes psychologisches Testverfahren, nicht nur im ursprünglich ins Auge gefassten klinischen, sondern auch im Normalbereich.[18]

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Pierre Janet, (Band 2 zusammen mit) Fulgence Raymond: Les obsessions et la psychasthénie. Alcan, Paris 1903, OCLC 14811139 (französisch, 2 Bände; 2. Auflage 1908/1911, OCLC 800168791).
  • Henry F. Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewußten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung. Vom Autor durchgesehene zweite, verbesserte (Taschenbuch-) Auflage. Diogenes, Zürich 1996, ISBN 3-257-21343-3, Abschnitt Das Werk Janets–IV.: Die Erforschung der Neurosen, S. 511–515 (englisch: The Discovery of the Unconscious. The History and Evolution of Dynamic Psychiatry. New York 1970. Übersetzt von Gudrun Theusner-Stampa).
  • Nicolas Hoffmann: Zwänge und Depressionen. Pierre Janet und die Verhaltenstherapie. Springer-Verlag, Berlin / Heidelberg / New York 1998, ISBN 978-3-642-64345-3, Kapitel 2: Psychasthenie, S. 23–163.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b Dieter Wälte, Miriam Stein, Michael Zaudig: Neurasthenie. In: Michael Zaudig, Rolf Dieter Trautmann-Sponsel (Hrsg.): Therapielexikon Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie. Springer-Verlag, Berlin / Heidelberg / New York 2006, ISBN 978-3-540-25606-9, S. 500 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche): „Janet (1903) gliederte aus dem breiten Neurastheniekonzept die →Hysterie aus und fasste einige dem ursprünglichen klinischen Bild zugehörige phobische oder zwanghafte Symptome zum Konzept der ‚Psychasthenie‘ zusammen.“
  2. a b Michael Zaudig: Entwicklung des Hysteriekonzepts und Diagnostik in ICD und DSM bis DSM-5. In: Regine Scherer-Renner, Thomas Bronisch, Serge K. D. Sulz (Hrsg.): Hysterie. Verständnis und Psychotherapie der hysterischen Dissoziationen und Konversionen und der histrionischen Persönlichkeitsstörung (= Psychotherapie. Band 20, Heft 1). CIP-Medien, München 2015, ISBN 978-3-86294-028-8, S. 29: „Er gab das Wort ‚Neurasthenie‘ auf, da es auf einer neurophysiologischen Theorie basierte, für die es seiner Ansicht nach keine Beweise gab. […] Die Psychasthenie wird aber ähnlich definiert wie die Neurasthenie von Beard (1881).“
  3. a b Henry F. Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewußten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung. Vom Autor durchgesehene zweite, verbesserte (Taschenbuch-) Auflage. Diogenes, Zürich 1996, ISBN 3-257-21343-3, Abschnitt Das Werk Janets–IV.: Die Erforschung der Neurosen, S. 511 (englisch: The Discovery of the Unconscious. The History and Evolution of Dynamic Psychiatry. New York 1970. Übersetzt von Gudrun Theusner-Stampa): „Janet gab das Wort «Neurasthenie» auf, das auf eine neurophysiologische Theorie zurückging, für die es keine Beweise gab. Er prägte den Begriff «Psychasthenie» für eine Gruppe von Neurosen, zu der er Zwangsneurosen, die Phobien und verschiedene andere neurotische Manifestationen zählte.“
  4. Jürgen Margraf, Wolfgang Maier (Hrsg.): Pschyrembel Psychiatrie, Klinische Psychologie, Psychotherapie. 2., überarbeitete Auflage. Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2012, ISBN 978-3-11-026258-2, Eintrag Psychasthenie, S. 700.
  5. Gerhardt Nissen: Kulturgeschichte seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Klett-Cotta, Stuttgart 2005, ISBN 978-3-608-94104-3, S. 283 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  6. a b Heinz Schott, Rainer Tölle: Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen. C.H. Beck, München 2006, ISBN 978-3-406-53555-0, S. 574, Anmerkung 379 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  7. a b Hans-Peter Haack: Depressive Kernsymptome. Zeitgemäßes zum Begriff Depression. WFB-Verlagsgruppe, Bad Schwartau 2012, ISBN 978-3-86672-065-7, S. 58 (Volltext bei der DNB [PDF; 2,5 MB]): „Die Diagnose wird in der psychiatrischen Fachsprache nicht mehr verwendet wegen ihrer unscharfen Kontur.“
  8. Wolfgang Pfeifer: Etymologisches Wörterbuch, zitiert nach Psyche. In: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache. Abgerufen am 31. Januar 2020
  9. Joh. Friedrich Jacob Reichenbachs allgemeines griechisch-deutsches und deutsch-griechisches Handwörterbuch zum Schulgebrauche. Band 2: M. Joh. Friedrich Jacob Reichenbachs allgemeines deutsch-griechisches Handwörterbuch zum Schulgebrauche: A–Z. Johann Ambrosius Barth, Leipzig 1818, Eintrag Kraftlosigkeit, S. 216 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  10. Asthenie. In: Wahrigs Herkunftswörterbuch. Abgerufen am 2. Februar 2020.
  11. Asthenie. In: Duden online. Abgerufen am 2. Februar 2020.
  12. a b Henry F. Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewußten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung. Vom Autor durchgesehene zweite, verbesserte (Taschenbuch-) Auflage. Diogenes, Zürich 1996, ISBN 3-257-21343-3, Abschnitt Das Werk Janets–V.: Die dynamische Theorie, S. 515 (englisch: The Discovery of the Unconscious. The History and Evolution of Dynamic Psychiatry. New York 1970. Übersetzt von Gudrun Theusner-Stampa): „Janets Gegenüberstellung der zwei Hauptneurosen, Hysterie und Psychasthenie, wurde von C. G. Jung übernommen, der sie zu Prototypen der extravertierten und introvertierten Persönlichkeit machte […].“
  13. Uwe Henrik Peters: Lexikon Psychiatrie, Psychotherapie, medizinische Psychologie. Mit einem englisch-deutschen Wörterbuch im Anhang. 6., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Elsevier, Urban & Fischer, München/Jena 2007, ISBN 978-3-437-15062-3, Eintrag Psychasthenie, S. 425.
  14. Holger Steinberg, Dirk Carius, Leonardo F. Fontenelle: Kraepelin’s views on obsessive neurosis: a comparison with DSM-5 criteria for obsessive-compulsive disorder. In: Brazilian Journal of Psychiatry. Band 39, Nr. 4, 2017, doi:10.1590/1516-4446-2016-1959 (englisch): “As a result, people affected by psychasthenia suffered from indisposition, unsettledness, and a feeling of being incomplete.”
  15. Hans Jürgen Eysenck, Sybil B.G. Eysenck: Personality Structure and Measurement (Psychology Revivals). Routledge, 2013, ISBN 978-1-135-02158-0, S. 22 (englisch, eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche – Neuauflage des ursprünglich 1969 erschienenen Buchs): “Jung believed that the extravert in case of neurotic breakdown is predisposed to hysteria, the introvert to psychasthenia […] his typical neurotic disorder is pychasthenia”
  16. a b Reinhard J. Boerner: Temperament. Theorie, Forschung, Klinik. Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg 2015, ISBN 978-3-642-39505-5, Abschnitt 4.3.1 Die Theorie von Eysenck, S. 73 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  17. MMPI-2 Scales. University of Minnesota Press, abgerufen am 5. Februar 2020 (englisch).
  18. a b Heinz W. Krohne, Michael Hock: Psychologische Diagnostik. Grundlagen und Anwendungsfelder. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-17-019080-1, S. 285 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).